Ars Electronica Ausstellung: Social Media und Hypertext um 1900

Ars Electronica Ausstellung: Social Media und Hypertext um 1900

Wer weit in die Zukunft schauen will, braucht entweder eine Kristallkugel mit mindestens 10-Megapixel-Chip, oder aber eine scharfe Beobachtungsgabe, die Fähigkeit zur Extrapolation und eine lebhafte Phantasie. Wie die aktuelle Sommerschau des Ars Electronica Center zeigt, wurde so manches, was im Fin de siècle wie Science Fiction scheinen musste, technische Realität der Gegenwart. So schreibt Robert Sloss in seinem Essay „Das drahtlose Jahrhundert“ 1910 über die Kommunikationsmittel der Gegenwart:

Jedermann wird sein eigenes Taschentelefon haben, durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können. Die Bürger der drahtlosen Zeit werden überall mit ihrem Empfänger herumgehen, der irgendwo, im Hut oder anderswo, angebracht sein wird…

100 Jahre in die Zukunft

Gute Idee… die Sache mit dem Hut, eine geschickt platzierte Antenne müsste zumindest den WLAN-Empfang gravierend verbessern, und wer weiß: wo Pimps noch eine Feder im Hutband stecken hatten, trägt der Geek von übermorgen womöglich einen nicht bloß fashionablen, sondern überaus nützlichen Drahtbügel. Aber zurück nach Linz: in der aktuellen Ausstellung Die Welt in 100 Jahren – eine Reise in die Geschichte der Zukunft stellt das Ars Electronica Center Linz die Visionen von Vordenkern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts den Zukunftsentwürfen zeitgenössischer Wissenschaftler und Künstler gegenüber. Klingt augesprochen besuchenswert, und wenn der 2010er-Sommer weiter so regnerisch weitergeht, wie er begonnen hat, kommen Indoor-Aktivitäten ganz besonders gelegen.

Im Zentrum des historisch-futuristischen Parts der Ausstellung stehen der mir bislang unbekannte französische Schriftsteller, Zeichner und Karikaturist Albert Robida (1848-1926), der in seinem 1891 erschienen Buch über „Das elektrische Leben des 20. Jahrhunderts“ nicht nur elektronische Nachrichtenübermittlung, Live-Berichterstattung und Flugobjekte, sondern auch digitale Überwachung, Spams und permanente Reizüberflutung prophezeite.

Der zweite Name dagegen ist mir vertraut – den „Mundaneum“ Erfinder Paul Otlet (1868-1944) kenne ich aus Frank Hartmanns Büchern. Der Belgier gilt als Vater der modernen Informationstheorie und beschränkte sich keineswegs auf die Theorie, mit dem Nobelpreisträger Henri La Fontaine gründet er 1895 das „Office International de Bibliographie“. Die Ambitionen des Duos reichten weit über eine gewöhnliche Bibliothek hinaus. Das gesamte Wissen der Menschheit sollte gebündelt werden, um es allen zugänglich zu machen und durch bessere „Vernetzung“ zukünftige Kriege zu verhindern. Ein Zitat aus dem Pressetext zur Ausstellung zeigt, dass die beiden Visonäre in der Tat eine Menge Social Media Ideen vorwegnahmen:

Nach der Weltausstellung von 1910 bietet die belgische Regierung Paul Otlet ein großes Gebäude an – das „Palais du Monde“ bzw. „Mundaneum“ in Brüssel. Der Versuch ihr Projekt zu „globalisieren“ und zwischen 1900 und 1914 in Paris, Washington und Rio de Janeiro weitere „Datenzentren“ aufzubauen scheitert, nicht zuletzt an explodierenden Kosten. Das ursprüngliche „Mundaneum“ hingegen verfügt 1934 über mehr als 15 Millionen Bücher, Zeitschriften, Fotos, auch schon erste Ton- und Filmdokumente – und die erste analoge Suchmaschine der Geschichte. Mittels der von Otlet entwickelten Universellen Dezimalklassifikation werden nicht nur die Titel der Bibliothek beschlagwortet und kategorisiert, sondern auch alle eingehenden Anfragen (bis zu 1.500 konnten pro Jahr bearbeitet werden). Dabei wurde festgehalten, für welche Informationen sich BenutzerInnen interessieren, um daraus Aussagen über die Relevanz der Dokumente zu erlangen und die Antworten auf die Suchanfragen zu optimieren. Aufgrund dieser ausgeklügelten Kategorisierung bzw. „Verlinkung“ und der Idee, Daten in einem zentralen Netzwerk zu speichern, gilt Paul Otlet als der Urvater des Hypertexts und Vordenker des Internets. Zukunftsweisend nimmt er Entwicklungen wie Web 2.0, Social Media und User Recommender Systems vorweg.

Ted Nelson hat zwar den Terminus „Hypertext“ geprägt, aber Meister Otlet war eindeutig früher dran, scheiterte aber teils an explodierenden Kosten, teils an fehlenden Technologien. Besonders bitter: 1940 wird das ehemalige Mundaneum für eine Ausstellung über Nazi-Kunst geräumt, dabei zerstören die Besetzer 67 Tonnen Dokumente. Frank Hartmann hat mir kürzlich dieses Handy-Foto geschickt, es zeigt einen von Paul Otlets Original-Karteikästen:

Paul Otlets Karteikasten

Der futuristische Teil der Ausstellung läuft unter dem Titel „Next Ideas“, gezeigt werden diverse Projekte von „the next idea“ Stipendiaten. Seit 2004 fördern voestalpine und Ars Electronica mit diesem Programm technologische und wissenschaftliche Innovation, denn visionäre Ideen haben es nun mal an sich, dass sie ihrer Zeit ausgesprochen weit voraus sind. So mag Cesar Haradas autarke, schwimmende Siedlung auf dem offenen Meer (hoffentlich ohne Kevin Costner) heute noch unmachbar scheinen, aber das hätten die meisten seiner Zeitgenossen damals wohl auch über Otlets Ideen gesagt.


Fotocredits: Ars Electronica Presse-Service / Frank Hartmann


11 Kommentare
  1. Christopher
    Christopher sagte:

    Ich finde es immer wieder interessant, wie sich die Leute vor 100 Jahren die Zukunft vorgestellt haben. Bemerkenswert finde ich auch, dass Dinge, bei deren Äußerung man damals vielleicht höchstens eine Portion Spott erntete, heute Realität sind (siehe Flugzeug oder Handy/Smartphone).

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Ja – das stimmt, aber das sind halt auch genau die, die übrig geblieben sind – sprich: es gab natürlich auch jede Menge Ideen, die tatsächlich völlig illusorisch waren. Aber das im vorhinein zu wissen ist eine Kunst, die wohl nur sehr wenige beherrschen…

  2. pixmac3Cmanager
    pixmac3Cmanager sagte:

    Rewind to the past, fast foward back to now. Jetzt hab ich wieder mal lust für das AEC festival bekommen. :-)
    Es gibt immer und es wird immer geben, Leute die weit hinausdenken und die Zukunft sehen können, sie sind Menschenkenner gute Beobachter, leider werden sie oft ausgelacht, angelächelt, verrückt erklärt oder verspottet. Ideen gibt es wirklich wie Sand am Meer. Ideen von Visionären spiegeln mögliche Wünsche der Masse. Und ob und wann die Masse wirklich darauf ansprechbar ist, ist ein besonderes und unberechenbares Phänomen. :-) Ja es gibt die Leute die etwas bewegen wollen und entwickeln anfangen.. aber sie passen einfach nicht ins Konzept der Masse… wieso spreche ich von der Masse… Massenpsychologie hat eine größere Bedeutung als die Intelligenz des Menschen. Nur wenn die Masse anspringt, wird mit vollem Einsatz an den schon lange im Keller gelagerten neuen Idee geschmiedet.

    lg. István Lörincz

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