100 Prozent von nix

He, VISA: 90 von 40 sind wieviel Prozent?

100 Prozent von nixAmpere, Volt, Ohm, Watt, (Kilo)Wattstunden, Blind- und Scheinleistung, Wirkungsgrad… niemand behauptet, dass die physikalischen Modelle zur Beschreibung jenes Elektronenflusses, den wir gemeinhin als „Strom“ bezeichnen, sich auf simple Rechenoperationen beschränken. Doch trotz aller Komplexität gilt letztendlich: Prozentwerte bleiben Prozentwerte. Ganz gleichgültig, ob wir Wahlergebnisse prognostizieren oder Umsatzsteuer bezahlen. Insofern hat mich die folgende Interviewpassage aus dem Visa-Kundenmagazin „complete“ Nr. 03 – September 2010 dann doch sehr verwirrt. Yvonne Schröder spricht mit Wolfgang Anzengruber, dem Vorsitzenden des Verbund-Vorstandes, über Wasserkraft und E-Mobilität. Hier die ersten beiden Fragen:

complete: Herr Anzengruber, wie wir in der Titelgeschichte erfahren, wird es bald zu einem Engpass von Gas und Öl kommen. Als eine Lösung werden erneuerbare Energiequellen angeführt – wie setzt sich eigentlich die Energie, die der Verbund liefert, zusammen?

wolfgang anzengruber: Die Verbund-Kraftwerke decken etwa vierzig Prozent des österreichischen Stromverbrauchs (ca. 70.000 Millionen kWh pro Jahr). Der Wasserkraftanteil liegt bei 90 Prozent.

complete: In der Energiestrategie Österreich wurde festgelegt, dass bis 2020 rund 34 Prozent der Endverbraucherenergie aus erneuerbaren Energiequellen kommen sollen. Was trägt der Verbund dazu bei?

wolfgang anzengruber: Schon jetzt sparen die Verbund-Wasserkraftwerke pro Jahr 22 Mio. Tonnen CO2. Bei der Wasserkraftnutzung hat Österreich aber noch Potential […]

Bitte korrigieren Sie mich, wenn mir ein Rechenfehler unterlaufen ist. Aber in meiner bescheiden-deterministischen Mathemathik-Welt ergeben 90% (Wasserkraftanteil) von 40% (des Gesamtenergieverbrauchs) nun mal 36%, plus minus 0% Diskussionsspielraum. Und soweit ich weiß, brennt Wasser erstens extrem schlecht (fragen Sie mal die Feuerwehr!) und zählt zweitens ganz eindeutig zu den erneuerbaren Energiequellen. Wir müssten also, wenn wir mal sämtliche in flacheren Gegenden der Alpenrepublik drehenden Windräder und jede mit staatlicher Förderung auf Einfamilien-Hausdächer gepappte Solarzelle statistisch ganz außer Acht lassen, in den nächsten 10 Jahren den Anteil der Wasserkraft zugunsten fossiler Brennstoff-Generatoren um mindestens 2% senken, um das niedrig gesteckte Ziel von 34% zu erreichen. In der Praxis sollten wir freilich, da Herr Anzengruber vom Gesamt-, die Interviewerin aber von der Endverbraucherenergie spricht, in deutlich mehr als einem Fünfzigstel der Wasserkraftkraftwerke hurtigst den letzten Tropfen über die Turbinen rinnen lassen – sonst droht womöglich eine EU-Strafzahlung aufgrund zu geringer CO2 Produktion, denn Pflanzen leben bekanntlich nicht allein von Lichtnahrung, trinken aber in der Regel keine Fruchtsäfte.

Womöglich sind meine Erwartungen an das Kundenmagazin eines Kreditkartentandlers maßlos überzogen, selbst wenn für die redaktionellen Inhalte die unbestechliche Redaktion des Falter verantwortlich zeichnet. Andererseits ist das vielleicht gar kein Grund, sondern ein Hindernis: zumindest in meiner schmutzigen Phantasie kann ich mir lebhaft vorstellen, wie die Redakteure fürs Flaggschiff-Blatt zu unkritische, zu produktlastige und zu schludrig redigierte Artikel dem kommerziellen kommerzielleren Blättchen aus dem eigenen Stall überlassen. Man hat’s heutzutage halt auch nicht einfach als tiefreaktionärer postlinker Verlag mit einem Cheffe, der das Internet partout nicht leiden kann. Trotzdem gehen derlei Milchmädchenformeln auf Kreditkartenabrechnungen genauso wenig durch wie in skurril-simulativen Convenience-Medienartefakten.

Guter Journalismus informiert tendenziell ausgewogen, Auftragsjournalismus macht mich in diesem Fall via Desinformation aber zumindest tendenziös neugierig – weiß gar jemand, wie die echten Zahlen derzeit aussehen und wie viel auf die angestrebten 34% (Stimmt die Zahl eigentlich? Kommt mir extrem niedrig vor.) tatsächlich fehlen?

PS an die VISA-Marketingabteilung: Reiner Kapellers Car-iology Blog macht ja durchaus Sinn. Immerhing liegt es für Ihr Kern-Business alles andere als fern, die Praxistauglichkeit der totalen Bargeldlosigkeit unter Zuhilfenahme eines ebenso Zeitgeist-kompatiblen wie risikolosen Publikationsformats intensiv zu testen. Aber diese toten Bäume in meinem Postfach ärgern mich Monat für Monat, ich bin bloß zu faul, um den Wechsel zu Mastercard nicht nur mental durchzuführen. Entweder Sie lassen ein konsumförderndes Magazin von Schreibern produzieren, die Hedonismus nicht als Auftragsideologie betrachten, oder Sie entscheiden sich für „richtigen“ Journalismus. Denn mein Zwangs-Abo würd ich liebend gern gegen ein paar Bonus-Flugmeilen eintauschen, ja sogar 100 Meter pro Ausgabe wären ein akzeptabler Deal. Kontännt-Konfiguration, papierbasierte Vervielfältigung, postalischer Verstand 12 mal pro Jahr, da kommt schon was zusammen! Nehmen Sie mich doch einfach vom Verteiler und schicken Sie mir einmal im Jahr einen Amazon-Gutschein über 50 Euro, da hätten wir beide was davon: Sie sparten Werbeausgaben, ich würd vor lauter Freude vielleicht sogar drüber bloggen. Weil ganz ehrlich: die nächste Ausgabe wandert gemeinsam mit dem restlichen Old Media Spam direkt vom Briefkasten in die Altpapierbox.

0 Kommentare
  1. misher
    misher sagte:

    Etwas Gutes hat dieses Schundblatt nun ja doch noch gebracht: einen sehr unterhaltsamen Artikel von Dir!
    Und: zumindest die 34 % stimmen tatsächlich – nachzulesen in dieser wunderbaren Broschüre für die das BM für Wirtschaft, Familie und Jugend sowie das BM für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft verantwortlich zeichnet:

  2. Florian
    Florian sagte:

    Guter Artikel, aber ein kleiner Fehler: complete ist nicht das Kundenmagazin von VISA, sondern das der „card complete Service Bank AG“. Ein Unternehmen, das VISA-Karten anbietet, aber auch Mastercard und JCB.
    Ein Konkurrenzunternehmen wäre zum Beispiel die „PayLife“ (vormals Europay), auch die bieten die VISA-Karte an (und auch Mastercard und JCB).

    Das Magazin haut mich übrigens auch nicht vom Hocker. Aber es wird wenigstens vom Falter-Verlag produziert. Und mit dem verdienten Geld machen die eine großartige Wochenzeitung…

  3. CEEA
    CEEA sagte:

    Schön geschrieben und das PS bringt es auf den Punkt.
    Old Media Spam, schon lange nicht mehr gelesen und sofort wieder mit interessanten Bildern im Kopf verbunden.

    Danke für deinen ausführlichen Beitrag zu einem Rechenfehler vom Verbund-Chef, dem eigentlich gerade solche minimalen Versprecher mit großer Auswirkung einfach nicht passieren darf.
    Immerhin zählt er, laut diversen Expertenmeinungen, zu den best(bezahlt)en Manager Österreichs. Und noch dazu kommt ein Teil seines nicht gerade geringen Einkommens aus Steuergeldern…
    ;)

  4. Tobias
    Tobias sagte:

    puh wirklich ausführlich gerechnet, was man vielleicht in der ganzen Diskussion nich vergessen sollte das Wasserstrom nicht gleich Ökostrom ist da viel Strom aus Pumpspeicherwerken als Wasser=Ökostrom abgerechnet wird, obwohl zum „pumpen“ billiger Nacht atom Strom eingekauft wurde, und nach dem ablassen ist es guter teurer Ökostrom ;)

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Meines Wissens nach passiert das in Österreich nicht – falls da jemand andere Infos hat, interessiert mich das sehr.

      Als Speicher für Überkapazitäten eben aus der Wasserkraft macht das Hochpumpen nämlich hochgradig Sinn. (So wird ein Wasserkraftwerk quasi zum riesigen, H2O bassierten Akku.)

  5. Relaxer
    Relaxer sagte:

    Super Artikel. Musste echt laut lachen beim Lesen. Schon lustig, wie oft mit Zahlen um sich geschmissen wird ohne sich wirklich Gedanken zu machen was sie bedeuten. Hab gehört 99% aller Zahlen- und Prozentangaben die kursieren sind falsch. lol

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