Buzzfeed - sieht so die Zukunft des Boulevard-Journalismus aus?

2 dieser 3 Buzzfeed-Strategien sind die Zukunft des Online-Journalismus

Buzzfeed stößt auf alles andere als ungeteilte Zustimmung. Doch egal, was man von Artikeln wie „Die Anti-Hochzeit dieses Paares wird Dich sofort heiraten lassen wollen“ und Listen á la „14 Verschwörungstheorien, die Dir endlich die Welt erklären“ [Großschreibung wie im Original] halten mag, das Start-Up ist die journalistische Erfolgsstory der jüngeren Social Media Geschichte. Wer sich näher mit den Ideen, Strategien und Geschäftsmodellen von Gründer und CEO Jonah Peretti beschäftigt, stellt schnell fest: Buzzfeed ist weit mehr als die neue, tiefergelegte Spielart des Online-Boulevards. Und garantiert keine Serie von Zufallstreffern.

Peretti hat verstanden, dass das Internet nicht nur neue journalistische Darstellungsformen forciert, sondern auch ganz neue Einkommensmodelle ermöglicht. Die Denkweise klassischer Massenmedien-Macher beruht auch online auf der alten Offline-Prämisse: Wir brauchen Inhalte, die ausreichend viele Leser anlocken, um möglichst hohe Werbe-Erlöse zu erzielen. Der Buzzfeed-Boss widerspricht im re/code Video-Interview vehement: Die Daten, die er mit Katzenvideos gewinnt, dienen dazu, Native Advertising Clips mit der gleichen Effizienz zu verteilen. Und das scheint sich durchaus zu rechnen.

Ich habe das Interview heute auf der Universität meine Studenten in der Lehrveranstaltung AT KFOR (Arbeitstechniken Kommunikationsforschung) vorgespielt, und die waren genauso baff wie ich heute Morgen. Denn Peretti erläutert Verfahren und Methoden, die rein gar nichts mit Journalismus zu tun haben, dafür sehr viel mit Public Relations. Issue Management oder Content Marketing zielen darauf ab, hochwertige (auf welcher Skala auch immer) Inhalte zu produzieren, deren einziger Zweck es ist, möglichst weit verbreitet zu werden.

Buzzfeed-Gründer Peretti: Die Nutzer müssen unsere Inhalte nicht auf Buzzfeed konsumieren, damit wir daran verdienen.

Würden Sie ein Video-Interview mit Barrack Obama drehen, um es anschließend nicht auf Ihrer eigenen Homepage zu veröffentlichen? Buzzfeed hat genau das getan und sich über 50 Millionen Views gefreut. Der Trend, Inhalte komplett für soziale Medien zu produzieren, anstatt dort nur Teaser zur eigenen Homepage zu veröffentlichen, wäre dann wohl die Gegenthese zum Paywall-Modell, das bislang nur für wenige Publisher, beispielsweise die New York Times, funktioniert.

Interview mit Jonah Peretti aufgenommen am 16. März 2015 auf der South by Southwest Konferenz

Kein Turbo-Boulevardjournalismus?

Mit klassischem Journalismus und journalistischen Werten hat das nichts mehr zu tun. Buzzfeed verdient sehr gut mit Native Advertising und verschenkt seine Inhalte nicht zähneknirschend, weil sowieso niemand dafür bezahlt. Nein, Buzzfeed tut alles, um die eigenen Inhalte möglichst weit zu verteilen und bekommt im Gegenzug Nutzungsdaten, die in einem iterativen Prozess permanent auf die Weiterentwicklung des Angebots einwirken.

Jonah Peretti hat, wie manche meinen, ein Monster kreiert. Eine neue Art von Boulevardmedium, bei dem es nicht darum geht, die Geschmacklosigkeits-Latte noch eine Spur tiefer zu legen, sondern um eine konsequente Abwendung von Nachrichtenwertfaktoren und Relevanzkriterien hin zu einem iterativen Prozess. Produziert wird von Feedbackschleife zu Feedbackschleife immer zielgenauer exakt das, was am besten funktioniert. Wäre Buzzfeed mit dieser Strategie nicht so unglaublich erfolgreich, könnte man die Seite mit einem Schulterzucken abtun und sich kurz wundern. Die vor rund einem Jahr gestartete deutschsprachige Version mag diese Einschätzung (noch) unterstützen, aber die US-Version beschränkt sich längst nicht mehr auf kuratierte Skurrilitätenlisten.

Buzzfeed experimentiert mit neuen Business-Modellen.

Buzzfeed stellt Journalismus auf den Kopf.

Denn Perettis Firma kann sich mittlerweile eine ganze Reihe von Edelfedern leisten: Arrivierte Experten ihres Fachs, die genauso gut für die New York Times arbeiten könnten (und teilweise auch gearbeitet haben). So finden sich auf der Startseite klassische politische Reportagen plötzliche direkt neben den „schönsten nigerianischen Bräuten“. Die Ressorts heißen trotzdem weiterhin nicht Innen- / Außenpolitik, Sport und Kultur, sondern LOL, win, omg, fail oder cute. Das alles macht traditionelle Verleger, die sich nicht mal mehr ein Lektorat leisten können, zunehmend unrund.

Keiner will sich, da besteht Konsens, „auf das Niveau von Buzzfeed herab begeben“. Verständlich, aber ich wage zu behaupten: Sie könnten selbst dann nicht, wenn sie wollten. Denn was Buzzfeed ganz grundlegend von ihren eigenen Portalen unterscheidet, erschließt sich nicht auf den ersten Blick.

Was könnte man von Buzzfeed lernen?

Jonah Berettis Listen-Imperium mit leichtem Reportage-Einschlag ist vielleicht das erste Online-Massenmedium einer wirklich neuen Generation, das konsequent bewährte Paradigmen über Bord wirft. Der Erfolg gibt dem Firmengründer Recht und spielt Mark Zuckerbergs Tageszeitungs-Vision in die Hände.Holger Schmidt schreibt dazu:

Um sein soziales Netzwerk attraktiv zu halten, hat er den Algorithmus in Richtung der Medieninhalte getrimmt. Weil deren Beiträge nun häufiger gezeigt und gelikt werden, posten die Medien immer mehr Inhalte dort. Sie haben den Köder (mehr Klicks) geschluckt, den Zuckerberg ihnen vor die Nase gehalten hat, und Facebook damit tatsächlich zur besten Zeitung der Welt gemacht.

Buzzfeed würfelt die Themen wild durcheinander.

Wilde Mixtur – ein ganz normaler Tag auf der Buzzfeed-Startseite.

Qualitätszeitung vs. Boulevard – wird diese Dichotomie gerade abgelöst von Paywall vs. LOL-Content? Müssen wir Blogger einmal mehr die Welt retten? Fest steht jedenfalls, dass sich der Online-Publisher der Zukunft keinesfalls drauf verzichten kann, die ersten beiden Spezifika Buzzfeeds in eigene strategische Überlegungen einzubeziehen.

  1. Buzzfeed arbeitet konsequent mit Split-Testing: Jeder Artikel wird mit mehreren Überschriftenvariationen veröffentlicht. A/B Tests sind kein zusätzliches Analyse-Instrument, sondern genuiner Bestandteil der Publishing-Strategie.
  2. Der „Kapitalrückfluss“ von Social Media Plattformen passiert für Buzzfeed nicht über Werbebeteiligungsmodelle, sondern Nutzungs-Daten. Jeder neue Artikel verfeinert das empirische Modell des „idealen Beitrags“. Analyse ist kein zusätzlicher Datenlayer, sondern genuiner Bestandteil der Publishing-Strategie.
  3. Die Trennung zwischen Inhalte und Werbung war im Social Web nie eine besonders scharfe, bei Buzzfeed verschmelzen beide zu einem ununterscheidbaren Amalgam. Native Advertising ist kein zusätzlicher Revenue-Stream, sondern das Haupt-Business-Modell.

Und ich werd jetzt erst mal den Artikel über das geplante Werbeverbot für die Darstellung gleichgeschlechtlicher Paare in Kasachstan lesen. Oder doch lieber den Beitrag über 16 Dinge, die man in Essex essen muss? Buzzfeed ist und bleibt eben das Zentralorgan des postmodernen Boulevards.


Titelbild: Screenshot aus dem re/code Video im Beitrag

0 Kommentare
  1. MaelRoth
    MaelRoth sagte:

    “ […] Content Marketing zielen darauf ab, hochwertige (auf welcher Skala auch immer) Inhalte zu produzieren, deren einziger Zweck es ist, möglichst weit verbreitet zu werden.“
    Ich halte solche Statements nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass Inhalte, die sich viral verbreitet haben Unternehmen nur wenig gebracht haben. Natürlich ist es schön fürs Ego und die sog. „vanity metrics“ sind immer erfreulich, aber nein, es geht im Content Marketing nicht um Reichweite, sondern um die RICHTIGE Reichweite. Und auch das bezieht sich eigentlich nur auf „ToFu“ Content…

  2. datadirt
    datadirt sagte:

    MaelRoth  Ich hab das verkürzt ausgedrückt – müsste eigentlich heißen: „deren einziger Zweck es ist, innerhalb der Zielgruppe möglichst weit verbreitet zu werden.“

    Die relevanten Metrics kommen bei Content Marketing ja erst später ins Spiel, wenn’s ums Lead-Nurturing und Upselling geht.

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