Twitter in Deutschland und Österreich

Bitter für Twitter: Deutschsprachiges Microblogging bleibt Nischenphänomen

Eigentlich hat sich Twitter ja vom Start weg an jenen Ratschlag gehalten, den Walter White seinem Crystal Meth Kochschüler Jessie gibt: „Be a blowfish!“ Denn die Verteidigungsstrategie dieses Meeresbewohners besteht darin, sich aufzublasen und so viel größer zu erscheinen, als er eigentlich ist. Im Gegensatz zum Blowfish musste Twitter nichtmal selbst Wasser durch die Kiemen ansaugen, das haben andere besorgt: jahrelang nannten Chronisten der Social Media Ära Facebook und Twitter in einem Atemzug, und zwar in völliger Verkennung der Tatsache, dass Twitter zumindest im D-A-CH Raum wie auch im Großteil des übrigen Europas wenn nicht ein Rand-, so doch ein Kleingruppenphänomen darstellt.

Angesichts der Tollpatschigkeit des Managements, des wenig lukrativen Business-Modells und der stagnierenden bis rückläufigen Nutzungs- und Interaktionsrate spricht sich langsam herum, was der Spatz schon längst von den Dächern pfeift: längeres Zwitschern macht die meisten Nutzer Microblogging-müde.

Überall Tweets, nirgends Interaktionen, wenige Clicks

Meinem @datadirt-Account hat 43.000 Follower. Vor drei bis vier Jahren folgten auf jeden Link, den ich ausgeschickt habe, ein paar hundert Klicks so sicher wie das Amen in der Kirche. Davon kann längst nicht mehr die Rede sein: mehr Nutzer, weniger Zeit und verkürzte Aufmerksamkeitsspannen haben die Klickrate, die Twitter anfangs als Marketing-Tool so überaus attraktiv machen, in den Keller sinken lassen – keineswegs nur mir. Holger Schmidt schreibt:

Als die freundlichen Kollegen von @SPIEGELONLINE neulich einen Beitrag aus diesem Blog an die damals 280000 Follower twitterten (und ich hektisch beim Provider nachfragte, ob der Server hält), kamen trotz einiger Retweets ganze 250 Klicks auf den Text zustande. Eine Nachfrage bei einem Blogger-Kollegen brachte etwa die gleiche magere Resonanz. Ich treffe auch immer mehr Twitterer der ersten Stunde, die keine Lust mehr haben, weil die „Echokammer“ inzwischen ziemlich leer sei. Bleibt nur ein kleiner Teil an Menschen übrig, für die Twitter als täglicher Nachrichtenlieferant unverzichtbar geworden ist? Denn auch im Kriterium der sozialen Interaktionen auf den Nachrichtenseiten verliert Twitter an Bedeutung gegenüber Facebook.

Der Stachel, der früher oder später die Luft aus dem Twitter-Ballon entweichen lassen wird, sitzt aber noch viel tiefer. Twitter schafft es problemlos, potentielle neue Nutzer neugierig zu machen, diverse Kooperationen mit Fernsehsendern holten viele neue Twitteranten ins Boot. So ein Account ist rasch angelegt, doch die Crux liegt in der Langzeitbindung. Aktuelle Nutzungszahlen und -trends belegen deutlich, dass selbst angesichts steigender Neuregistrierungen das Interesse rasant sinkt.

Im vierten Quartal 2014 schrumpfte erstmals die Wachstumsrate der Timeline-Views, während Twitter als Traffic-Quelle im deutschen Sprachraum immer unwichtiger wird. Don Dahlmanns fragt sich, ob Zeit und Ressourcen überhaupt noch gut investiert sind. Aktuelle Referrer-Vergleiche der Blogrebellen illustrieren ein unschöne Wahrheit: ob groß, ob klein, alle Webseiten hängen am Facebook-Traffic-Tropf. Twitter spielt auch hier auf datenschmutz im Trafficmix trotz knapp 50% Social Traffic bloß eine sehr untergeordnetes Röllchen, auch in den USA.

Social Media Traffic

Alle Mann von Bord

75% aller Twitter Nutzer springen im Lauf ihrer Microblogging-Karriere wieder ab:

Jeder siebte Nutzer, der sich bei Twitter angemeldet hat, ist also noch aktiver Schreiber; etwa jeder Vierte nutzt die Seite noch. Auch dieser Wert wird von Twopcharts bestätigt, die 13 Prozent aktive Schreiber, umgerechnet also etwa 124 Millionen schreibende Twitterer. Besonders interressant ist die Loyalität in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Anmeldung: 25 Prozent der Twitterer, die sich 2008 angemeldet haben, schreiben heute noch aktiv. Aber nur 10,7 Prozent der neuen Nutzer aus dem Jahr 2012 sind noch aktiv.

Das bestätigt auch die jüngste Onlinestudie von ARD und ZDF. Nur 7% der Nutzer seien täglich unterwegs, die Hälfte besucht Twitter bloß einmal im Monat – das entspricht mageren 1,95 Millionen aktiven Deutschen monatlich. Ob diese Zahl die Headline Twitter im Sinkflug rechtfertigt, sie dahingestellt. Weit mehr Sorgen macht mir ein anderer Indikator: geht man davon aus, dass unser gemächliches Österreich allen Netzentwicklungen locker zwei bis drei Jahre hinterherhinkt, so kann an getrost prognostizieren: es wird bald abwärts gegangen sein. Selbst wenn oder vielmehr gerade weil Twitter hierzulande seit Jahresbeginn einen deutlichen Popularitätsschub verzeichnen konnte. Die Zahl der Accounts stieg zwar um 20.000 auf insgesamt 117.000 – was aber imnmer noch bloß nicht ganz einem 27stel der österreichischen Facebook-Nutzerschaft entspricht.

Internationale Jubelmeldungen sind daher keineswegs 1:1 auf hiesige Verhältnisse umzulegen. Amerikanische Marketer sehen in erster Linie zwei Stärken: während KMUs auf Branding setzen, nutzen Großunternehmen ihre Twitter-Präsenz primär zur Gewinnung von Neukunden. Beide Gruppen geben durch die Bank an, ihre Werbebudgets zu erhöhen, sehen aber zugleich den hohen Zeitaufwand, den konsistentes Twitter-Marketing erfordert, als Hauptproblem.

Befürworter von Corporate Accounts argumentieren mangels Zahlenbasis gerne qualitativ: Die Alpentwitterrepublik möge zwar dünn besiedelt sein, dafür aber reich an digitalen Meinungsführern, deren kumulierte Microreichweiten alle Unkenrufer verstummen lassen sollte. Wenn sie denn die hier gierig aufgeschnappten Kurzmeldungen über die Grenzen des Twitterversums hinein in ihre Redakionsstuben und Blogs trügen… Ja, hier ist die Kommunikationsbranche in der Tat noch weitgehend ungestört unter sich. Wo sich Pressesprecher und Innenpolitik-Redakteuer gute Nacht sagen, sollte man aber realistischerweise von klassischer PR und nicht unbedingt von Social Media Marketing sprechen.

Here be dragons (und Armin Wolf)

Verglichen mit Italien, Spanien und Großbritannien sind Deutschland und Österreich sehr dünn betwittert, wie diese Mapbox-Karte zeigt:

Europe Tweets

Schön, wenn sich trotzdem wenigstens die Politik über „Interesse“ freut, immerhin fand die erste Debatte der EU Spitzenkandidaten in Maastricht am 28. April ja quasi unter Ausschluss der Old Media Öffentlichkeit statt. Und es zeugt von rührender Hilflosigkeit, wenn euractiv versucht, Erfolgserlebnisse zu beschwören:

Wer die Debatte gewonnen hat, ist offen. Aber alle Parteien zeigten sich beeindruckt vom Online-Interesse an der Diskussion. „Ich habe die Aufmerksamkeit in den sozialen Medien angeschaut, und es scheint, als ob die Menschen zugeschaut und zugehört hätten“, sagte Martin Schulz im Anschluss an die Debatte. „Wir waren unter den beliebtesten Hashtags in mehreren Ländern in ganz Europa. Das ist ziemlich beeindruckend“, sagt Giuseppe Porcaro vom European Youth Forum.

Herr Porcaro ist offenbar nicht der einzige, der leicht zu beeindrucken ist – der Autor des Artikel entblödet sich nicht, den Zwischentitel „Die sozialen Medien als zentrales Wahlkampfelement“ zu wählen, um dann folgendes zu konstatieren:

Nach Angaben einer Umfrage zum Medienkonsum in Europa bevorzugen 75 Prozent der Bürger das Fernsehen als Informationsquelle für Europapolitik. Auch die Printmedien stehen hoch im Kurs. 40 Prozent aller Befragten geben an, dass diese eine ihrer beiden Hauptquellen für Informationen seien. Zwei von zehn Europäern sagen, dass sie das Internet überhaupt nicht nutzen.

Here be dragons

Solche Aussagen sind symptomatisch für die Wahrnehmung von Twitter: man möchte modern sein, möchte gerne glauben, dass ein 140-Zeichen-Service für die Sünden der Old Media Welt büßt, und Zuckerbergs gleich dazu. Dabei hat sogar @ArminWolf, Aushängeschild der österreichischen Twitter-Szene und Hauptgrund für deren starke Journalisten-Lastigkeit, auf seiner Facebook-Seite mittlerweile 40.000 Follower mehr als auf seinem Twitter-Profil.

Das Management arbeitet hart an der Kreuzigung

Die Geschichte des Unternehmens weist zwei Konstanten auf: Twitter hat erstens von Beginn an innovative technische Lösungen aus dem Hut gezaubert, mit dem Bootstrap-Framework eine enorm populäre Grundlage für viele Webservices geschaffen und eine mittlerweile solide Infrastruktur (Stichwort #Failwhale) auf die Beine gestellt. Und es zweitens immer konsequent geschafft, weit hinter den Möglichkeiten des Marktes zurück zu bleiben:

Die momentanen Probleme von Twitter (Reichweite, stagnierende Userzahlen) basieren auf etlichen Fehlentscheidungen des Managements. Wenn ich Drittanbieter nutzen muss um eine wackelige, von niemanden überprüfbare Userliste, die nach Interessen sortiert ist, zu bekommen, dann ist das schon mal schlecht. Twitter hat es auch vermieden, wichtige Bestandteile der Seite weiter zu entwickeln.

Im letzten Quartal hat Twitter schon wieder 132 Millionen an Investorengeld verbrannt – die Differenz der Betriebskosten gegenüber Einnahmen von 250 Millionen Dollar. Mit dem gezielten Aussperren von Drittentwicklern dürften sich die Betreiber langfristig auch keinen Gefallen getan haben.

Ist Twitter also passé? Den Exitus des Patienten zu konstatieren, wäre mehr als verfrüht, zumal der Service in den USA schon längst zur festen Begleitung des Fernsehprogramms geowrden ist. Andererseits schützt auch ein bekannter Brand nicht vor dem rasanten Sturz in die totale Bedeutungslosigkeit, siehe Myspace. Die ankündigte Einführung eines Mute-Buttons, der es ermöglicht, Nutzern zu folgen, ohne deren Tweets in der eigenen Timeline zu sehen (quasi Facebook-Filterung für misstrauische), wird jedenfalls keinen Weg aus dem Dilemma weisen, mit dem Twitter in Deutschland und Österreich zu kämpfen hat: eine vergleichsweise überschaubare Gruppe von Opinion-Leadern versichert sich gegenseitig, wie toll und relevant sie Twitter und sich selbst finden.

Der Rest schaut gelegentlich mal vorbei und weiß nicht so recht, wie er diese schier endlose Flut an kleinen Textschnipseln sinnvoll und dauerhaft in den kommunikativen Alltag integrieren soll. Und wenn nach nunmehr acht Jahren die Zahlen zeigen, dass bloß ein einstellige Prozentzahl längerfristigen Nutzen in diesem eigenartigen, widersprüchlichen Medium sieht, dann muss man sich vermutlich von dem Gedanken verabschieden, dass der große D-A-CH Durchbruch demnächst oder überhaupt irgendwann erfolgt. Mal sehen, wie lange Twitter die Heizkosten für unsere Vanity-Nische noch bezahlen kann.

4 Kommentare
  1. Max
    Max sagte:

    Fande die Grafik mit den Twitter-Usern in Österreich interessant. Leider bin ich noch nicht so lange mit Twitter vertraut, weshalb die Grafik mir das ganze gut verdeutlicht.

  2. Metacowboy
    Metacowboy sagte:

    Das sind die Üblichen 0.001 % haben mich auch erschreckt selbst bei Twitter Stars wie GuyKawasaki . Links waren schon immer sehr unsexy  doch nachdem Facebook nicht schön indexiert auf google ist Twitter eine notwendige Ergänzung geblieben auch wenn nicht mehr so aktiv wie früher .

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