Almcamp 2010: Fotos, Fazit und die Barcamp-Zukunft

Blogparade: Wann ist man jemand im Web?

Anlässlich des Kick-Offs der Eventreihe TwentyTwenty – exploring the future rufen die Organisatoren zu einer Blogparade auf: die Beiträge sollen Geert Lovinks Vortrag und die nachfolgende Diskussion im Radiokulturhaus ergänzen. Ich habe die Ehre und das Vergnügen, mit Moderator Martin Mühl, Falter-Redakteurin Ingrid Brodnig und dem altgedienten nettime-Haudegen himself die Bühnenbretter des Radiokulturhauses zu teilen und hoffe, dass die passende Identität kommenden Mittwoch aus dem Waschsalon zurück ist, denn: Netzkritik ist angesagt!

Geert hat nämlich auch schon begonnen zu schirrmachern und sich in alter Netzaktivisten-Tradition am 31. Mai 2010 freiwillig das Facebook-Leben genommen. Ein Netz-Verweigerer ist er deswegen keineswegs, sagt er: „The future is not some alien invasion from outside but is shaped by everyone. The future is inside us.“

Die Frage sei bloß: wer kontrolliert, wer strukturiert das Ich 2.0? Ich warte noch bis Mittwoch auf die ultimative Antwort und unternehme im Vorfeld mit Ihnen, verehrter Leser, einen Ausflug in die Vergangenheit, und die dauert – so viel Vorwegnahme muss ein – immer noch an. Schon wieder. Aber man kann’s nun mal nicht allen Recht machen: Us and them, wir und die anderen, Innen und Außen, ich und die Welt, darum dreht sich’s. Die Medien sind neu, die Frage nach der Identität bleibt hochgradig identisch, mehr ganz- als teilüberlappend.

Wann ist man „jemand“ im Web? lautet die, wie sich’s für eine anständige Blogparade gehört, vergleichsweise einfach formulierte Frage. „Ab 1994“ gilt nicht, also:

Man ist jemand im Web, wenn ein anderer, von dem man glaubt, dass er jemand im Web ist, glaubt, man sei jemand im Web.

Warum? Lassen Sie mich dazu ausholen. Nicht ein wenig, sondern gleich g’scheit weit.

Folge 1: Boethius

Sogar bei fernerer Betrachtung kann man nicht übersehen, dass die Frage nach der Identität Bestandteil jeder sinnstiftenden Lehre ist, das breite Spektrum der angebotenen Erklärungen, Meta-Erklärungen und Deutungsmuster bezeichnen wir gemeinhin als Kultur. Da geht’s uns nicht mal sprichwörtlich an den ziemlich weit oben liegenden Kragen, nein, wir müssen die Wurzel packen. Also auf in den De Lorean und schnell mal gute 2.000 Jahre zurückgereist.

Boethius habe damals angeblich gesagt: „Si tacuisses, philosophus mansuisses.“ (Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben). Der Aufmerksamkeitsökonom könnte noch hinzufügen „aber hättest es nie mit dem blonden IT-Girl getrieben“. Ist Schweigen doch die schleichende Zellvergiftung der Selbstdarstellung, so lautet zumindest §1 der ICH AG Geschäftsordnung.

Konnte Boethius etwa ahnen, dass heutzutage alles mit jedem kommunizieren will, ja geradezu muss? Dazu gehört nicht viel, denn gewiss wusste er um seine eigene paradoxe Situation: hätte Boethius geschwiegen, wäre er uns unbekannt geblieben.

Passend dazu flexibilisierte sich das Heilsversprechen, das hat der rasche Blick ins Morgen, der auf ausreichend lange Sicht ja notwendigerweise zum Blick ins Jenseits wird, immer schon so an sich gehabt. Warhol mit seinen 15 Minutes of Fame tritt nicht als Vordenker einer Aufmerksamkeitsökonomie auf, sondern beendet das Zeitalter der humanzentrierten Apotheose:

Apotheose (griechisch apo- „fern-, ins Ferne“, theós „Gott“) ist die Erhebung eines Menschen zu einem Gott oder Halbgott. Es bedeutet auch nur „Verherrlichung“. Sie hat ihren Ursprung im Altertum, als geglaubt wurde, dass „große Persönlichkeiten“ zu Göttern würden und wie diese verehrt werden könnten bzw. sollten.

Gottwerdung schließt Technik ein, Gaia und der Global Brain erweitern unsere Identität, sie connecten uns mit der Gottmaschine. Mögen Lichtnahrungs-Prediger beim Kebabstand um die Ecke völlern, „the big promise“ steht immer im Raum: „Es wird garantiert aus dem Wald zurückschallen, wie auch immer. Wenn du nur hineinrufst.“ Der Downstream bekommt mehr Bandbreite als der Upstream, hier endet die „anarchische Struktur“, diese Ungleichgewicht ist in der Provider-Hardware quasi fest verdrahtet.

Das wäre also die Kurzfassung, eine bestechend lineare Entwicklung vom antiken Bon-Moteur zum Twitter-Werbepapst des 21. Jahrhunderts. Aber der Vergleich hinkt, die Crux rostet, der Übertragungskanal schreibt seinen Treppenwitz in die Dunkelkammer der Geschichte ein. Rauschen ist auch eine Art von Remixen, und den Beweis, dass der Informationsgehalt sich umgekehrt proportional zum Nährwert verhält, ist uns die Boulevardwissenschaft bis heute schuldig geblieben.

Boethius, der alte Schlingel, hat nämlich was anderes gesagt, und auch aufgeschrieben in seiner „Philosophiae Consolatio“, sonst wüssten wir das erst seit meiner Zeitreise. Also zuerst nicht geschwiegen und dann auch noch geschrieben:

Möchtegern-Philosoph: „Intellegis me esse philosophum?“ [Erkennst du nun, dass ich ein Philosoph bin?]
Boethius: „Intellexeram, si tacuisses.“ [Ich hätte es erkannt, wenn du den Mund gehalten hättest.]

Was sich reimt, wird eben wahrer, das wusste schon der Pumuckl. Der Unterschied zählt, denn er, Boethius, zieht seine Schlüsse aus dem Kommunikationsverhalten seines Gegenübers. Der Nicht-Philosoph macht Boethius zum Philosophen. #différance, #Apoha

Identität ist ergo ein Nebenprodukt kommunikativer Aktivität.

Folge 2: Neidhart von Reuental

Zuviel Gelaber, zu viele Tweets, Fragmente allerorten: einmal mehr drohen Medien mit der Vernichtung unserer „Kultur“, und wir werden auf die einzige adäquate Weise reagieren, auf jene Weise, die sich schon so oft bewährt hat. Wir erfinden einfach neue, noch viel gefinkeltere Medien, die jene, welche uns einst furchtbare Schreckensvisionen bescherten, vollkommen harmlos aussehen lassen.

Frage an Radio Eriwan: Ist unsere Identität durch das Internet bedroht?
Antwort: Im Prinzip ja. Aber irgendwann musste das Internet ja mal beginnen, sich zu wehren.

Denken Sie nur mal an die zunehmende Verrohung der Jugend! Fast wäre es dem Fernsehen gelungen, einer ganzen Generation viereckige Augäpfel zu verpassen und sie völlig vom Leben abzuschotten. Im letzten Moment ritt jedoch ein Held am weißen Ross heran. Und als dann schließlich Computerspiele jeden Super Mario World Spieler zum potentiellen Amokläufer machten, war es wirklich an Zeit für ein neues Bedrohungsszenario: et voila, schon wird die Jugend in Facebook gestalkt und gemobbt. Vermutlich.

Wir tendieren ja immer dazu zu glauben, die Erstlöser jedes scheinbar genuin neuen Problems zu sein, dabei wusste schon Neidhart von Reuental im Mittelalter ganz genau, dass Rede und Verstand nicht kongruent sein müssen:

Doch wais ich czwen dorff chnaben
die enruchten das ich wer begraben
so cziment sich so wahe.
das ist limmenczaun vnd irrenfrid.
der in die oren paide ab snit.


Zwei nette Burschen wohlbekannt,
Mit großem Maul und kaum Verstand,
Die säh’n mich gerne leiden.
Sind Limmenzaun und Irrenfritz,
Ach, schlüg vom Himmel doch ein Blitz
G’rad mitten durch die beiden!

Limmenzaun und Irrenfritz – Ist dieser Neidhart zeitlos oder „macht heute überhaupt niemand mehr sowas Gutes“? Limmenzaun und Irrenfritz, die Foren-Trolle des Mittelalters: mit großem Maul und kaum Verstand.

Kommunikative Aktivität ist ergo ein Nebenprodukt unserer Identität.

Endstation: Sehnsucht

Wann ist man „niemand“ im Web? Sehr geehrte Jury, lieber Vorsitzender, geschätztes Publikum! Diese Frage ist weit schwieriger zu beantworten, lassen Sie mich Ihnen dies an einem Beispiel erklären:

Morten Gibrit war noch nie im Internet. Es interessiert ihn einfach nicht. Aber „he’s not in control!“ Sein weit jüngerer Halbbruder Bruder Terrance Fitze-Gibrit hat ohne sein Wissen eine Facebook-Page angelegt und schreibt dort regelmäßig Status-Updates. Der falsche Morten hat mittlerweile über eine Million Fans.

Jetzt Frage ich Sie, kompetent-objektive Jurymitglieder, wer hat die Identität entführt und kein Lösegeld verlangt?

a) Morten ist jemand im Netz, Gibrit ist niemand.
b) Morten und Gibrit sind beide niemand im Netz.
c) Morten ist niemand im Netz, Gibrit ist jemand.
d) Morten und Gibrit sind beide jemand im Netz.

Merken Sie, wie komisch diese Anhäufung von jemands und niemands klingt? Sowas sind wir einfach nicht gewohnt, genauso wenig wie die Tatsache, dass es keine richtige Antwort gibt. Ihre Wahl mag einiges über Sie verraten, liebes Jurymitglied, über Ihre Identität, über Ihr Verhältnis zu Sein und Schein. Über Mortens und Gibrits jemand/niemand Status erfahren wir dabei gar nichts. Seien Sie bloß froh, dass heute niemand verurteilt werden muss.

[Der Ankläger verlässt den Gerichtssaal.]

Fazit: Identität 1.0 ist für unser kausales Denken schwierig genug zu fassen und die wenigen Bugfixes rechtfertigen keinesfalls einen ganzzahligen Versionssprung. Identität 1.0.1 meinetwegen oder wenn’s sein muss auch 1.1. Weil wie schon erwähnt:

Man ist jemand im Web, wenn ein anderer, von dem man glaubt, dass er jemand im Web ist, glaubt, man sei jemand im Web.

Das war aber in der nicht-virtuellen Welt auch immer schon so. Dass der „Andere“ ein eigener Fake-Account sein kann, ist übrigens auch nichts Neues. Fragen Sie mal bei der Gewerkschaft der „Imaginären Freunde“ nach: die sind inzwischen fast alle arbeitslos.

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0 Kommentare
    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Da hast du völlig recht, das skaliert natürlich *und* dann kommt schnell eine gewisse Eigendynamik dazu – die weder rein der zugrundeliegenden Technologie noch rein der conditio humana zuzuschreiben ist, sondern wohl einem Amalgam aus beiden.

      Und vielen Dank für das Kompliment! War doch recht unsicher bei diesem Beitrag… man könnte da ja noch endlos weiterschreiben; ich hab versucht, Blogparaden-mäßig einfach ein Schlaglicht in einem etwas flacheren Winkel draufzuwerfen. :coolfrogjump:

  1. Markus Wiede
    Markus Wiede sagte:

    Ich kann Alexander da nur zustimmen, wirklich sehr interessant.

    Ich würde da ja nach Zahlen vorgehen, bei Bands bei MySpace z.B. kann man in der Regel davon ausgehen dass ab 50k Zugriffe die Band auch wirklich „wer“ ist.

    Der PageRank sowie Traffic sind für Webseiten bestimmt eine gute Kennzahl, bei Sozialen Netzwerken mag man sich vielleicht mit der Anzahl der Freunde profilieren wenn man lustig drauf ist ;-)

    Gruß,

    Markus

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Im Web 1.0 ließ sich die Illusion ja noch recht leicht aufrecht erhalten… im Web 2.0 funktioniert das kaum mehr; Quantität kann höchstens in manchen Fälle eine Seite der Medaille sein!

      Auf die MySpace Plays würd ich nicht viel geben, da gibt’s sehr effektive Möglichkeiten, diese mit Software zum… „frisieren“ :satan:

  2. peter
    peter sagte:

    sehr superer artikel! ritchie, viell. wirst du ja mal staatssekretär (oder so was ähnliches) für neue medien (oder so was ähnliches). stellt sich nur die frage für welche partei…

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Danke! Die Bewerbung ist schon draußen… aber ich sag’s dir, der Markt für parteilose selbständige Staatssekretäre ist härter als der für Social Media Berater! :darkfrog:

      Und: coole Sache, dass wir uns in Heathrow über den Weg gelaufen sind! Jetzt wird’s dann mal Zeit für ein Cuba Libre in Wien, oder?

  3. Torben
    Torben sagte:

    Nette Formulierung. Ich denke aber auch, dass viele, die wirklich etwas im Web sind und einen riesen Umsatz machen, eher im Hintergrund bleiben, weil sie keine Lust oder Zeit zum Bloggen haben. Bei vielen Top-Affiliates konnte ich das schon beobachten.
    Jemand der für mich etwas ist im Netz: selbstaendig-im-netz.de

  4. Martin O. Hamann
    Martin O. Hamann sagte:

    Aber was ist, wenn ich von niemandem glaube , dass er jemand im Web ist?

    Also ich denke, es ist ganz leicht: Es geht nur ims Geld. Nur wer viel Kohle hat, der ist was.

    Alle wollen immer wer sein, aber kein tut was dafür das auch zu erreichen.

    vg
    Martin

  5. Mark
    Mark sagte:

    Sehr interessanter Artikel. Werde mir darüber auch mal meine Gedanken machen und anschließend einen Artikel darüber verfassen bzw. an der Blogparade teilnehmen.

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