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Geert Lovink läuft der Netz-Avantgarde nach

Geert Lovink findet, dass es keine relevante Netz-Avantgarde mehr gibt. Ich finde, nach diesem FAZ-Interview gibt es keinen relevanten Geert Lovink mehr. Besonders angetan hat es mir folgendes Zitat:

Es gibt in Deutschland Leute, die man durchaus als Netzavantgarde bezeichnet, etwa die digitale Boheme in Berlin.
Das sind Nachzügler, die erst sehr spät auf den Zug aufgesprungen sind. Die waren in den Neunzigern, als sich das Netz formierte, nicht dabei. Man kann auch von einem Marketingphänomen sprechen.

Nun denke ich durchaus nicht, dass die „digitale Boheme“ aus Berlin in den letzten fünf Jahre besonders viel Relevantes zu sagen gehabt hätten – die Online-Innovationstreiber sitzen nun mal nicht in Europa. Nach Geerts Definition wäre ich als Abonnent der ehemals legendären <nettime>-Mailingliste und Besuch der Nettime-Konferenz in den 90ern in Amsterdam wohl „dabei“. Aber in Wahrheit handelt es sich bei dem haltlosen Geplapper des spätberufenen holländischen Wannabe-Wissenschaftlers bloß um Konservativismus in seiner widerlichsten Form: Opa Lovink spricht mit dieser Argumentation ja allen Spätgeborenen jegliche Berechtigung ab, irgendwas zu verstehen, was heutzutage so im Netz passiert.

Nun ist Geert Lovink nicht irgendein dahergelaufener Zeitungsherausgeber, sondern ein europäischer Netzaktivist, der sich sehr früh mit den Implikationen digitaler Medien zu beschäftigen beginnt. 1983 gründete er den Think/Art-Tank Agentur Bilwet mit (holländisch: Adilkno), von 1989 bis 1994 schreibt er als Journalist beim Medienkunst-Magazin Mediamatic. Seine Biographie würde ja vermuten lassen, dass sich im Lauf der Jahrzehnte eine gewisse Abgeklärtheit eingestellt hat, aber keineswegs: Erfahrung schützt vor Kulturpessimismus nicht.

Aber ich darf euch beruhigen, net.Generation: 99,9% Prozent der damaligen Listen-Mails waren ebenso entbehrliches Befindlichkeitsgeschwafel wie „moderne“ Statusupdates, nur wesentlich ausführlicher formuliert. Zur Theorie der neuen Medien scheint Lovink allerdings wenig Essentielles beizutragen zu haben:

Wir müssen bedenken, dass das Internet in den westlichen Staaten inzwischen von der Mehrzahl der Leute genutzt wird. Erst in den letzten Jahren haben wir diesen gewaltigen Sprung gemacht. Man muss sich erinnern, dass Habermas das Internet vor ein paar Jahren noch ein Zusatzmedium genannt hat. Da dachten noch viele, das geht vorbei.

Einige Zeilen später deklariert sich der Professor der Hogeschool von Amsterdam, der seit 2004 das Institute for Network Cultures leitet, schon deutlicher:

Für mich ist die Medientheorie immer mit dem Gedanken einer Gegenöffentlichkeit, dem Kampf um die Netzarchitektur verbunden gewesen. Ich bin auf der Seite derer, die das Netz sozialpolitisch mitgestalten. Das ist nach wie vor ein offenes Feld, auch für Leute, die nicht technisch oder kommerziell sind. Man kann hier als Einzelner, als kleine Gruppe noch etwas verändern, trotz der Dominanz mächtiger Korporationen wie Microsoft und Google. Das mag naiv sein, aber daran glaube ich, und diese Erfahrung mache ich täglich.

Auch wenn ich dem Fazit zustimme: Medientheorie per se hat natürlich nichts mit „dem Gedanken einer Gegenöffentlichkeit“ zu tun. Medientheorie versucht (bislang weitgehend erfolglos), Theorien und Modelle der Kommunikation zu beschreiben, die uns helfen sollen, die komplexe, uns umgebende Medien- und Kommunikationsumwelt besser zu verstehen.

Ich bin wirklich der letzte, der etwas gegen frei flottierende Assoziationsketten hat, aber die Dominanz der Online-Unternehmenskultur gegenüber einer ins Hintertreffen geratenen Avantgarde zu beklagen, zeigt bloß, dass Geert Lovinks Peer-Group vor lauter Medienkunst ein wenig den Anschluss an die Realität verloren hat. Wenn man auch noch ein wenig neidisch auf die allmächtigen Programmierer ist, dann kommt sowas dabei raus:

Die frühe Netzideologie trieben Technik- und Naturwissenschaftler voran, teilweise vermischt mit der Hippie-Kultur der siebziger und frühen achtziger Jahre. Es waren in der Hauptsache Akademiker und Programmentwickler, die das Internet aufgebaut haben. Die akademische Richtung hatte nie große ästhetische Vorstellungen. Es war Code, und es blieb Code bis Mitte der Neunziger. Erst als das Medium von der Unternehmenskultur schon übernommen worden war, kamen die technischen Möglichkeiten, es ästhetisch fortzuentwickeln. Eigentlich hätte dieser Prozess komplett umgekehrt verlaufen müssen. Erst die Avantgarde und dann die unternehmerische Umsetzung.

Erst langsam zeigt sich das tatsächliche politische und gesellschaftliche Potential des Netzes – dass jene Demokratisierung und Verbreiterung der digitalen Medien, die sich genau jene Gruppe um Lovink in den Neunziger so sehr gewünscht hat, nun in Gejammer über eine „ins Hintertreffen geratene Avantgarde“ umschlägt, schreit nach dem Tag #Realsatire.

0 Kommentare
  1. Manuel Gruber
    Manuel Gruber sagte:

    Haha. Spitzen Beitrag. Beim Lesen des Interviews lief mir mehrmals die Gänsehaut auf, ob dieser verborgenen Trauer, zur Vor-Generation der wirklich digitalen Generation zu gehören.

    Insgsamt gesehen sieht es aus, als wollte er das Internet auf eine Oberschichte begrenzen, das Netz wieder zu einem frühen, wissenschaftlichen, elitären Netzwerk machen. Da versteh ich durchaus sein Befinden, wenn ich aus seinen Augen die derzeitigen Entwicklungen mitansehen würde…

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Danke! :frog:

      Und ja, der Gedanke mit der „Oberschicht“ kam mir auch; ich wollt nicht so weit ausholen, aber an sich ist schon die ganze Dichothomie Avantgrade < -> Mainstream mehr als fragwürdig; nicht umsonst existiert in der Philosophie seit Jahrzehnten das Dictum vom „Tod der Avantgarde(n)“.

  2. Heinz Wittenbrink
    Heinz Wittenbrink sagte:

    Ich sehe es so wie du: Lovink und Co haben den Anschluss an die Webentwicklung seit Jahren verloren. Ich vermute, bei ihm tragen auch einige marxistische Stereotype zur Verkennung der Realität bei (womit ich nichts gegen Marx sagen möchte). Mir kommt es so vor, als würden immer wieder dieselben ökonomischen Standard-Schemata verwendet. Kenne allerdings zu wenig von seinen Texten.

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Mir fehlt auch der Text-Gesamtüberblick, aber da triffst du definitiv ins Schwarze; das zeigt sich auch deutlich dran an seiner sehr eigenartigen Definition von Theorie. Irgendwie schon deprimierend, wenn die Leudde nicht nur systematische Scheuklappen tragen, sondern auch noch stolz drauf sind!

  3. mo.
    mo. sagte:

    Genau davor habe ich Angst. Das ich im Alter eventuell mal ähnlichen Schund von mir lasse, weil ich einfach den Anschluss verpasst habe. Mir tut das auch immer weh, wenn ich höre und lese, was ehemalige Vordenker so verzapfen. Das erschreckende ist ja auch bei solchen Dingen die Tatsache, dass Leute, die mal Vordenker waren, oft mittlerweile auf den Stühlen nach vorne gerutscht sind und Interviews und beratende Tätigkeiten haben. Da schüttelt es einen und man wundert sich nicht wenig, wie langsam sich Institutionen, Politik und so entwickeln. Das unqualifizierte BlahBlah kann ich gerne verschmerzen, aber nicht deren mögliche Auswirkungen.

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