Gert Lovink propagiert den digitalen Nihilismus

Gert Lovink propagiert den digitalen Nihilismus

lovinkGert Lovink beweist einmal mehr unvorstellbaren Scharfblick und Analysetalent: er hat erkannt, dass das Internet kein Expertenmedium mehr ist, sondern inzwischen bereits von einer Milliarde Menschen benutzt wird. Ergo bewegen wir uns auf den digitalen Nihilismus zu, erklärt der holländische Medientheoretiker beim Interview mit Die Zeit.

Sobald die Netzavantgarde nicht mehr unter sich ist, kann ja nur Nihilismus die Folge sein, oder? Man ist versucht, mit Sly Stallones Zitat aus Demolition Man zu kontern: Ihr werdet lernen müssen, ein wenig sauberer zu sein, und wir werden lernen müssen, ein bisschen schmutziger zu werden.

Aber Lovink simplifiziert nicht, er spricht in dem Interview einige meiner Meinung nach sehr zentrale Punkte an. Vor kurzem erschien mit „Zero Comments“ der Abschluss seiner Trilogie, der „Dark Fiber“ und „My First Recession“ vorangegangen waren. Lovink, der die lange Zeit den englischsprachigen Netzkultur-Duktus prägende Liste mit gegründet hat, kennt die „vorkommerzielle“ Phase also ganz genau aus eigener Erfahrung:

Nach einer vorkommerziellen Phase, die von Experten dominiert wurde, und einer Zeit der Euphorie und der Spekulation, die mit dem Zusammenbruch der New Economy endete, befinden wir uns heute im Stadium der Vermassung von Internetanwendungen. Man braucht keine technischen Fähigkeiten mehr, jeder, der in der Lage ist, ein bisschen herum zu klicken, kann mitmachen.

Was mich an dem Interview überrascht hat, ist das wohltuende Nicht-Einhacken auf die Bürgerjournalismus-Kerbe: Blogs sind nun mal nicht die besseren Lokalzeitungen und Blogger nicht (nur) Journalisten:

Mein Verständnis des Bloggens ist trotzdem ein anderes, es orientiert sich an dem, was Michel Foucault „Technologien des Selbst“ nennt. Das Entscheidende im Netz von heute sind nicht Nachrichten und Meinungen, sondern Selbstdarstellung und Selbstreflexion: Wer bin ich? Was mache ich? Wer befindet sich in meiner Gegend? […] Es geht also um eigene Erfahrungen, die gespiegelt sind in der Konfrontation mit einem Text, einem Bild oder Video, das vorgefunden wurde.

Und bekanntlich geht doch nichts über ein wenig „Konfrontation mit dem Selbst“, oder? Auch wenn diese in Lovinks Wahrnehmung auf eine sehr flüchtige Art und Weise geschieht:

Obwohl Blogging Schrift ist, hat es etwas Informelles: Wie ein Gerücht verblasst und vergeht es sehr schnell. Und das hat es noch nicht gegeben. Bis vor Kurzem noch herrschte eine äußerst starke Trennung zwischen dem Gespräch, das verweht, und dem schriftlich Notierten.

Das zentrale Branding-Word des Interviews, der angesprochene digitale Nihilismus, resultiert laut Lovink aus einem generellen Misstrauen gegenüber Utopien, das „nichts mit einer Religion und wenig mit einer ethischen Überzeugung zu tun hat“. Die Abwesenheit von Kommunikation, das Abarbeiten am Selbst, die Reflexion an der 100% absorbierenden Fläche, also ein Widerspruch in sich selbst?

Es ist eine Position, die von einem imaginären Nullpunkt ausgeht, dem „Zero“ in Zero Comments. Denn die Mehrzahl der Blogs wird ja gerade nicht gelesen, sie spielen in einer Grauzone der Öffentlichkeit, von der sich einige wenige Spitzen-Blogger abheben. Die Null, die in der Software aufscheint – kein Verkehr, niemand da gewesen, das „Nihil“ von Nihilismus -, ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Dieses Setup gelingt laut Lovink aber nur deshalb, weil die Blogger das gute alte interesselose Wohlgefallen zum Stigma ihres Kreuzzuges für das Nichts erhoben haben:

Blogs fragen nicht mehr nach Alternativen, sie tragen keine Ziele vor sich her, auch keine revolutionären. Sie beschränken sich ganz auf den affektiven Raum, den sie flüchtig besetzen. Medienphilosophisch gesehen, handelt es sich um dekadente Artefakte, die den Schritt von der Wahrheit ins Nichts wagen.

Das Interview liest sich spannend, lässt aber am Ende eine schalen Nachgeschmack zurück: denn letztendlich fällt Lovink selbst in die Grube, die er anderen gräbt: genauso wenig wie sich das Phänomen Bloggen aufs Thema Bürgerjournalismus reduzieren lässt, dürfte diese Beschreibung auf die Gesamtheit der Blogosphäre zutreffen. Das Blogger „keine Ziele vor sich hertragen“ klingt im akademischen Konferenz-Kontext, der Gert Lovinks berufliches Heimatbiotop darstellt, sicherlich gut: ein John Chow oder ein Jeremy Shoemaker wären aber wohl ebenso wie Robert Basic nicht bloß geringfügig anderer Meinung.

0 Kommentare
  1. Urlaubswerk
    Urlaubswerk sagte:

    Es ist m.E. recht simpel. Die Menge an Traffic im Web ist ungefähr konstant. Die Menge der Blogs ist in den letzten Jahren exorbitant gestiegen. Es kristallisieren sich gute und somit besuchte Blogs heraus, die große Menge aber dümpelt vor sich hin und wird einen langsamen Tod sterben. Wenig User, wenig Cash, wenig Pflegeaufwand, noch weniger User etcetc.

  2. Thinkabout
    Thinkabout sagte:

    sich einmal pro Woche Gedanken zu machen über den Fortbestand von Blogs – das ist in Ordnung. Sogar darüber bloggen ist in Ordnung. Die restliche Zeit der Woche und auch an diesem einen Tag aber gitl daneben: Sich Gedanken machen über die eigenen Postings, das eigene Schreiben. Damit tut man am meisten für „die Blogs“ – an seinem eigenen winzigen Platz.
    Generelle Aussagen zu Blogs sind da schlüssig, wo sie das Grundphänomen beleuchten: Was ist mit Blogs möglich? Wie leicht kommt Kreti und Pleti als Leser und Betreiber an Blogs?
    Ansonsten ist eine Vereinheitlichung etwa so gültig, wie wenn wir von den Deutschen oder den Schweizern schreiben (bei den Schweizern ganz besonders! :wink: )

Hinterlasse einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar