Wolfgang Lorenz Gedenkpreis für internetfreie Minuten 2010

Nominierungs-Rede: Heinzelmaier bei Lorenz +1 Gedicht

Gestrigentags hatte ich die Ehre und das Vergnügen, vor einer illustren Schar von Schwarzgurt-Geeks im Rahmen des Wolfgang Lorenz Gedenkpreises für internetfreie Minuten die mahnende Laudatio über Nominee Bernhard Heinzelmaier zu halten. Wie es dazu kam, dass der tendenziell enorm undigitale Jugendforscher aus der beschaulichen Welt der teil-immersiven Wissenschaft mitten ins brodelnde Zentrum des Netzlebens katapultiert wurde, erklärt der folgende Text – meine Rede inklusive des abschließenden Gedichts, die hier auf vielstimmigen Leserwunsch zu veröffentlichen mir ein riesengroßes Vergnügen ist. Und nein, danke der Nachfrage: vielstimmig ist keine Floskel, sondern wir sprechen hier von 3 (in Worten: d-r-e-i!, wenn nicht gar vier) Tweets – und keines davon von mir selbst! Sozialmediale Landvermesser gewichten mangels Alternativen Twitter in Rankings derzeit durchwegs überproportional. Rechnet man dann auch noch die geringe Userbasis auf die Gesamtbevölkerung hoch, wäre eigentlich „auf Wunsch tausender Österreicher“ noch Tiefstapelei. Danke Statistik, danke Bevölkerung – ich fühle mich geehrt!

Was höre ich da? Sie sind (Micro)Blogger und Social Media User aus dem Land mit dem .at hinten dran, haben aber ganz und gar keine Ahnung, was es mit diesem Lorenz-Preis für internetfreie Minuten auf sich hat? Na gut, dann mach ich ausnahmsweise mal den Blogger-Kreisky: Lernen Sie Geschichte, Herr Internetreporter! Folgendes trug sich nämlich im Rahmen des Elevate Festivals 2008 in Graz zu:

Dem „Scheiß Internet“, in das sich junge Menschen „verkriechen“, hat ORF-Programmdirektor Wolfgang Lorenz im Herbst des Jahres 2008 den Kampf erklärt. Wenn das nicht Grund genug ist, nach dem Visionär einen Preis zu benennen, was dann? Das Wiener KünstlerInnen-Kollektiv monochrom hat deshalb den „Wolfgang Lorenz Gedenkpreis für internetfreie Minuten“ gestiftet.

Twitter-Zeuge Heinz Wittenbrink
Twitter-Zeuge Heinz Wittenbrink.

Zurück in die Gegenwart, wir blenden um ins Lilarum. Ich habe es bereits gestern zu Beginn meiner Laudatio Nominatio im Figurentheater Lilarum erwähnt: „Heinzelmaiern“ klingt durchwegs österreichischer als „schirrmachern“, aber dennoch stellt jener schicksalhafte Vortrag am Kahlenberg im Vergleich zu anderen nominierten Netz-Feinden eine, wenngleich amüsante, Randnotiz dar. Und so freue ich mich, dass ein verdienter Preisträger die lange und bewegte Geschichte des Wolfgang-Lorenz-Gedenkpreises würdig fortschreibt. Herr Staatssekretär Josef Ostermayer, befand die aus Nicole Kolisch, Jana Herwig, Manfred Bruckner, Thomas Turner und Ingrid Brodnig, hat den WOLO 2010 für den ORF-Gesetz-Pfusch redlich verdient. Der äußerst effizient vergeben Publikumspreis geht an die Austro Mechana. Seht’s doch endlich ein: die Festplatten-Urheberrechts-Abgabe ist völlig sinnlos! Wir lagern all unsere raubkopierten Wolfgang Ambros Singles längst in der Cloud.

Damit bleibt mir nur mehr, Host Johannes Grenzfurthner für einen äußerst amüsanten Abend zu danken. Und auch wenn die Zukunft des Netzes in mancherlei Hinsicht mindestens unsicher sein mag, eines ist gewiss: auch in der vierten Auflage 2011 wird der WOLO auf keinen Fall aus Mangel an Nominierungen scheitern.

Nominierungsrede für Bernhard Heinzelmaier

von Ritchie Pettauer, anlässlich des WOLO 2010

Heinzelmaiers Einzelmeinung, die der Meinungsforscher nach dem Bilde Schirrmachers schuf, übersieht eine wichtige Tatsache: Facebook fragmentiert nicht nur, es provoziert, es schwitzt geradezu Hochkultur: überall rinnt sie heraus, und keiner bewahrt sie, die Hochkultur. Aber man steigt nie rein, kriegt nie nasse Füße, wenn man lauter dämliche „Freunde“ hat. Dieses Dilemma muss aber irgendwie abgedichtet werden, bevor Buridans Esel auch noch ertrinkt. Bringen Sie Ihre Rohrzangen mit. (Achtung: die haben mittlerweile Bodyscanner im Lilarum!)

Warum ist der Jugendforscher Bernhard Heinzelmaier für den Wolfgang Lorenz Gedenkpreis nominiert? Am 24.9. diesen Jahres veranstaltete die ehemalige Berater- und nunmehrige Forschergruppe Neuwaldegg die Konferenz „Digitales Managen: Wie Facebook, Twitter & Co Entscheidungen und Kommunikation in Unternehmen verändern.“ Herr Heinzelmaier hielt dort einen Vortrag über „aktuelle Trends aus der Jugendkultur-Forschung“. Im großen und ganzen lässt sich zusammenfassend sagen: wie seit der Inauguration der Jugendforschung nicht anders vorstellbar, sind die jungen Menschen derzeit, noch immer bzw. schon wieder in einer extrem beschissenen Lage. Nicht zuletzt dank des Scheiß-Internet, meint Heinzelmaier.

Digital Natives leiden unter dem allgegenwärtigen Diktat des Informationstotalitarismus. Doch so düster die Lage auf den ersten, zweiten und auf sämtliche weiteren Blick scheinen mag: Bernhard Heinzelmaier hat bei all der intuitiven Abneigung, die er gegen das Internet verspürt, dennoch einen Lösungsweg parat. Er rät nicht bloß Halbwüchsigen: „Schaltet den Zensor im Kopf ein!“

Johannes Grenzfurthner
Dr. Johannes Grenzfurthner, Arzt Ihres Vertrauens, Conferencier und Chorleiter.

Meine Damen und Herrn, als Generalsekretär und Mitinitiator des Österreichischen Internetrats freut es mich, dass dieses für die österreichischen Netzlandschaft so essentielle freiwillige Kontrollgremium, das gleichsam im innersten Kreis der Internet-Hölle geboren ward, und der nahezu vollständig analoge Jugendforscher zum gleichen Schluss kommen: Die einzige Möglichkeit, nicht kontrolliert zu werden, liegt in ausreichender Selbstkontrolle.

Ich sage: wer nichts zu verbergen hat, hat den Einschaltknopf für den „Zensor im Kopf“ bloß noch nicht gefunden. Für unseren Mann mit dem Hammer ist bekanntlich jeder Nagel ein Problem – für den Jugendforscher mit der Suggestivbrille ist jede Antwort eine Bestätigung seiner zunehmend unvageren Vermutungen. Warum Vermutungen? Der wie erwähnt sehr analoge Bernhard Heinzelmaier existiert virtuell kaum – als schwächlicher Schatten seines Selbst füllt er mit Mühe und Not nicht einmal eine ganz Google-Ergebnisseite. Dennoch hält die jüngste Geschichte 2 aufschlussreiche Recherche-Ergebnisse bereit:

Da wäre einerseits diese Fundstelle aus „Meine Welt – Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs“ Dezember 2007/Januar 2008, Heft 23, Jahrgang 24:

Nur Leistung zählt – Immer mehr junge Leute fühlen sich nicht anerkannt: „Viele Jugendliche leben im Sinnvakuum“, sagte Studienleiter Bernhard Heinzelmaier. Ihnen fehlten Werte und ideelle Ziele. „Weil Geld und Konsum alleine unzureichend motivieren, werden die notwendigen Anstrengungen in Schule, Beruf und Ausbildung nicht als Herausforderung, sondern als Zumutung und Druck erlebt“, so der Forscher.

Die gleiche Nachricht findet man übrigens auch auf kirchensite.de und NZWonline, verbreitet via KNA – Katholische Nachrichten-Agentur GmbH.

Eineinhalb Jahre später datiert Beitrag aus der Wiener Zeitung, Printausgabe vom Mittwoch, 9. Juli 2008: „Null Bock“ ist endgültig passé:

Dass Jugendstudien und der mediale Umgang mit Jugend an sich problematisch sind, davon ist auch Bernhard Heinzelmaier vom Institut für Jugendkultur überzeugt: „Das Bild, das die Gesellschaft von der Jugend heute hat, ist ein medial vermitteltes. Und das ist ein heterogenes, vielleicht sogar widersprüchliches. Auf der einen Seite wird Jugend positiv gesehen als Jugendlichkeit, etwa als jung, schön, erfolgreich und dynamisch sein“, so Heinzelmaier. Anderseits gibt es ständig irgendwelche Katastrophenmeldungen über gewaltorientierte oder komasaufende und drogenkonsumierende Jugendliche der Spaßgeneration, die desinteressiert und politisch abstinent sind, betont der Experte.

Nun frage ich Sie: was ist passiert in den vergangen zwei Jahren? Wohin ist das „Heterogene“, das „vielleicht sogar Widersprüchliche“ verschwunden? Konnte der Informationstotalitarismus in nur zwei Jährchen alle Ecken und Kanten erodieren, oder, wie’s neuerdings in Österreich heißt, „abschleifen“?

Martin Leyrer auf der WOLO-Bühne
Martin Leyrer, dank Overhead-Magie mit doppelter Bühnenpräsenz.

Wir Geeks, die wir so große Stücke halten auf Informationsfreiheit und Meinungsvielfalt, tun gut daran, gerade heillos kritischen Geistern nicht mit der Arroganz unreflektieren Spotts gegenüber zu treten. Aber ein Jugendforscher, der zugunsten bloßer Polemik jegliche Differenzierungskriterien innerhalb seiner Klientel über Bord wirft, wirft damit eben auch ein schlechtes Licht auf die eigene Klientel. Kein darf so über unsere Kids reden, meine ich, ganz besonders kein Jugendforscher. Aus diesem Grund habe ich Bernhard Heinzelmaier stellvertretend für alle Kulturkritiker der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgendes Gedicht zur erbaulichen Ermahnung gewidmet – und natürlich als Gedächtnisstütze für das 2. Axiom der digitalen Medienreflexion „Wie man in’s Internet hineinruft, so schallt’s heraus.“ Denn: der größte Feind unserer grauen Zellen sind nun mal nicht „die Medien“, sondern wir selbst…

Im Digitalen lauert oft – an Ecken und an Enden – Information in Überzahl /
und mit Visualisierungstools / kann man selbige drehen und wenden.

Es ruht der Blick – das ist ein Irrtum. Der Blick ruht nicht, er reflektiert /
obwohl Forscher abstrahieren sollten, ist sowas schon öfter passiert.

Kulturkritik und Armageddon, der Weg vom Mensch zum Affen:
er führt nicht durch den Mediendschungel, da könnt ihr noch so lange gaffen.

In Bücher, Fernseher, Computer, Handys: sie minderten, heißt’s, unser Wesen.
Das sagen Kritiker schon immer, und zwar bereits, seit wir lesen.

Solch Medienkritik mag manches Mal selbst genauester Prüfung genügen –
das Schöne ist, vergessen wir nie: die Geschichte straft sie stets Lügen.

Drum sage ich Herrn Heinzelmaier: es bleibt Ihnen unbenommen,
dass Sie das Internet nicht mögen – es hat Ihnen wohl nicht bekommen.

Nur eines sei noch angemerkt: das Internet an sich ist leer!
Alles, was dort drinnen ist, bringen Menschen in Verkehr.

Wenn Facebook, Twitter und so weiter Ihnen furchtbar dumm erscheinen,
dann liegt das nicht am „Social Web“: falsche Freunde bringen jeden zum Weinen!

0 Kommentare
  1. Stefan
    Stefan sagte:

    Echt cooler Beitrag, die Rede ist ja der Hammer ich hab mich weggeschmissen! Aus der Perpektive hab ich das Internet und das ganze Sozial gedönst noch nie betrachtet. Die Kostüme und der Hintergrund sind umwerfend, so grelle Farben tun inden Augen aua ;-)

    danke für den sehr Unterhaltsamen Artikel, wed auch weiterempfehlen!

  2. Eva
    Eva sagte:

    Danke für den wunderbaren Artikel, habe mich köstlich amüsiert! Das bild wo Martin neben gem Overhead Projektor steht ist aber unschlagbar! Jeder der eine Runde lachen will soll sich am besten einmal den Artikel durchlesen :D

    Ich wäre auch so gerne dabei gewesen… ist ja schon beim durchlesen witzig.

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