Schreib.Stilistik: Der Blogger und sein Journalist

Schreib.Stilistik: Der Blogger und sein Journalist

journostyleIch war immer der Meinung, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, so richtig zu schreiben zu lernen: und zwar durchs Schreiben. Durch Übung, Übung, Übung. Zumindest ich hab noch niemanden mit einem angeborenen Schreibtalent getroffen. Gewöhnt man sich an, aufmerksam zu lesen, auf Formulierungen zu achten und regelmäßig selbst die eigenen gedanklichen Ergüsse in Buchstabenform zu verewigen, dann stellt sich der passende Flow irgendwann ganz von selbst ein. Regeln sollte man kennen, klar – schon allein, um sie gezielt überschreiten zu können. Aber die klassischen journalistischen Textformate bzw. ihre einwandfreie Beherrschung werden im Netz grenzenlos überbewertet.

Der Beitrag Mehr Format wagen! von Klaus Jarchov auf Medienlese schlägt in eine meiner schon lange schwelenden Kerben: journalistische Schreib-Skills aus einer anderen, papiernen Welt werden hochgehalten. Anstatt neue Formate auszuprobieren, halten sich viele Onliner lieber an inadäquate Formalismen, die in keinster Weise zum neuen Medium passen:

Ob Buchdruck, Rundfunk oder TV – neue Medien brauchen neue Formate. Kaum ein Satz erscheint einleuchtender. Und kaum ein Satz wird im Falle des Web 2.0 weniger befolgt. Blogger müssen sich hier von Journalisten im Netz belehren lassen, dass sie doch – bitteschön! – erst einmal die grundlegenden journalistischen Stilformen aus der Holzhausener Schule pauken möchten, bevor sie sich in den Diskurs der Granden einzumischen wagen.

Dann folgen einige sehr gute Gegenbeispiele zu verbreiteten Schnapsideen wie dieser, die ich mir auch schon viel zu oft anhören musste: „KISS. Keep it simple stupid.“ Denn kein Mensch würde am Bildschirm lange Texte lesen. Das stimmt nicht, dieser persönlichen Erfahrung des Autors kann ich mich nur anschließen… zum Thema SEO habe ich naturgemäß allerdings eine diametral andere Meinung – aber es macht natürlich einen Riesenunterschied, ob man ein Blog zum Spaß oder mit finanziellen Intentionen betreibt, außerdem besteht SEO nicht bloß aus Überschriften.

Der Journalist in mir

Persönlich sehe ich mich aus dieser Debatte naturgemäß völlig ausgeklammert: da meine textuellen Elaboraten schon lange vor meinem Publizistikstudium jenen journalistischen Stilformen entsprachen, die österreichische Tageszeitungen als adäquat ansehen, gehe ich davon aus, dass ich diesen impliziten Regelkanon von wegen wie schreibt man eine Nachricht, eine Glosse, eine Kolumne, ein Interview pi-pa-po ausreichend verstanden habe. Das mit dem Bloggen begann dann erst 15 Jahre später, und das ist sicherlich ein Mitgrund, wieso ich mich gerade gezielte Regelverletzungen, Subjektivität und experimentelles Schreiben so sehr reizen; dazu hat Christian Jakubetz neulich ein paar sehr interessante Gedanken veröffentlicht.

Ein Blick in die Medienhistorie ist ebenfalls sehr hilfreich: wann immer ein neues Massen-Distributionskanal auftauchte, wurde er anfänglich mit der Stilistik seines Vorgänger-Leitmediums bedient: die ersten Radioreportagen waren schlichtweg vorgelesene Reportagen, und bis Fernsehmacher checkten, dass spoken words im TV anders funktionieren als im Radio, mussten auch erst einige Jahre vergehen. An diesem Wendepunkt befindet sich zurzeit das Netz: ein beträchtlicher Teil aller textlichen Inhalte unterwirft sich mehr oder weniger freiwillig (semi)journalistischen Kriterien*, während bereits eine beachtliche Latte neuer Formate in ungeschützten Biotopen ans Licht der sumpfigen Wasseroberfläche trieben. Gewiss hat die Technologie ihren beträchtlichen Anteil daran: wer weiß, ob nicht zukünftige Literaturwissenschaftler Soups oder Friendfeeds als wertvolle literarische Äußerung jener paar Blogger, die später mal berühmte Autoren gewesen sein werden, mit Begeisterung und Akribie auswerten. Schreiben im und fürs Netz ist viel mehr als „nur“ Multimedialität oder Hyperlinks: in welche Richtung sich das ganze entwickeln wird, zeigt sich bereits jetzt in Ansätzen. Und Vielfalt kann nicht nur King Content, sondern Queen Stil nur gut tun.

*) 1 davon find ich übrigens völlig zeitlos: korrekte Recht-, Großschreibung und Grammatik rocken fett, weil sie Texte einfach *viel* schneller lesbar machen. Speedreading-Enabling auf Produzentenseite quasi.

7 Kommentare
  1. nastorseriessix
    nastorseriessix sagte:

    Weniger Fachausdrück in den eigenen Texten, das zeichnet auch einen Blogger aus. Dahingehend bist du ab und an nicht ganz da, auch bei diesem Text habe ich mehr oder weniger, manchmal erst bei wikipedia nachschauen müssen um manchen Begriff zu verstehen. Das ist ein wichtiger Punkt wie ich finde, der den Blogger vom gemeinen Journalisten unterscheide. Das hat nichts mit Allgemeinbildung zutun!

  2. hainmd
    hainmd sagte:

    Bloggen ist fuer mich auch noch mehr Ausdruck der eigenen Persoenlichkeit als irgendeine andere Form des oeffentlichen Schreibens, also schliesse ich mich deiner Meinung ganz und gar an. Selbst wenn man zu kommerziellen Zwecken bloggt ist das online-Format kein blosser Abklatsch der Printmedien und sollte das auch nicht werden.
    Kurz in eigener Sache: wir verlosen jetzt Werbeflaechen, wer Interesse hat, kurz reinschauen: http://www.hainmd.de/webblog/2008/08/werbeplatz-zu-gewinnen/

  3. Tor
    Tor sagte:

    Hi Ritchie,
    als ungelernter (im Sinne fehlenden Studiums), aber dennoch seit Urzeiten praktizierender Publizist kann ich dir durchgehend zustimmen. Und weiß die Eloquenz des Stils aufgrund der oben verwendeten Fachausdrücke durchaus zu schätzen :) Und widerspreche dem ersten Kommentator: Sprache ist vielfältig und ein Nachschlagen bereichert – zumal die Wikipedia heute näher liegt als der Dicke Brockhaus im Wohnzimmer.

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