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Über das Neue der Medien

Der folgende Beitrag ist ein Auszug aus Frank Hartmanns Einführungsband Multimedia (UTB, Wien 2008 UTB Profile). Frank Hartmann ist Professor für Visuelle Kommunikation an der Bauhaus Universität in Weimar. Ich freue mich sehr über diesen Gastbeitrag und wünsche viel Spaß bei der Lektüre!

Mit Computer und Netzwerken wurden die Medien innerhalb von zwei Jahrzehnten plötzlich zu „neuen Medien“. Unsere Medienkultur ist vielfältig wie nie – wohin geht ihre Entwicklung? Am Anspruch, diese Fragen zu beantworten, scheitern regelmäßig die Bemühungen der Experten. Denn sie nehmen in ihrer Fixiertheit auf die technischen Möglichkeiten nicht in Betracht, worauf es dabei ankommt: auf dich und mich, also die Nutzer, die Anwendungen akzeptieren oder diese gleich neu erfinden. Man müsste also danach fragen, wie die multimediale Nutzerkultur von morgen aussehen könnte.

Multimedia, dieses obskure Schlagwort der 1990er-Jahre, ist ein etwas angestaubter Begriff. Die nicht besonders aussagekräftige, aber doch gebräuchliche Bezeichnung steht für „Multiple Content Media“, also für die Integration multipler Medienformate wie Text, Bild, Animation, Video und Audio – dafür, dass eine Information sich aus unterschiedlichen Kommunikationskanälen zusammensetzt. Eine Radiosendung bietet eine Rezeptionsmöglichkeit (akustisch) und ist monomodal codiert, während die Webseite des Radiosenders in der Regel multimodal codiert sein wird, d.h. optische und akustische Rezeptionsmöglichkeiten anbietet. Dazu kommt eine technische Medienkonvergenz, denn nicht zuletzt sind die Techniken der Telekommunikation und des Computers zusammengewachsen.

Der Digitalcomputer bedingt auch einen anderen, flexiblen Umgang mit dem Medienangebot, das zunehmend bestimmt ist von Interaktivität und, ganz generell, der Internet- bzw. Online-Kommunikation. Es ist Digitaltechnologie, die hier eine neue Form ermöglichte: die Konvergenz der Kanäle und die Integration der Formate durch multimodale Codierung. Mit ihr wurde der Begriff Multimedia jüngst neu aufgeladen – seine Grundlagen lehrt das Fach Medieninformatik, seine angewandte Form vermittelt das Mediendesign, seine Formate analysiert die Medienwissenschaft, seine sozialen Auswirkungen erforscht die Kommunikationswissenschaft.

In einer digitalen Medienkultur werden Informationen nicht isoliert angeboten, sondern bereits auf der technischen Ebene miteinander verknüpft. Multimedia wird von der Medieninformatik definiert als multimodale Aggregation digitaler Medien. Digitaltechnik ist die Betriebsgrundlage der Multimediakultur. Computer wurden zunächst nicht als Kommunikationsmedien konzipiert, sondern um mathematische Aufgaben zu automatisieren. Als weitere Aufgabe kam das vernetzte Informationsmanagement hinzu – Computerkommunikation diente in ihrer Anfangszeit der Optimierung von technischen Ressourcen. Bald aber wurde aus der mathematischen Maschine ein Apparat zur Konstruktion von Wirklichkeiten. Längst mehr als bloß Werkzeug, entwickelten Computer sich zu Hypermedien, und das Internet durch die spezielle Anwendungssoftware des World Wide Web zu einer Art Universalmedium.
Die digitale Integration von Inhalten hebt ältere Einzelmedienfunktionen auf. Eine technische Konvergenz, mit der Computer zu medialen Multifunktionsgeräten wurden, ist deutlich feststellbar. Digitalcomputer stehen für eine mehrfache Medienoption: ein und dieselben Daten können unterschiedlich ein- oder ausgegeben werden (etwa Klänge als Bilder und umgekehrt). Multimedia bedeutet also auch eine komplexe Darstellungsoption, bei der sich oft im Gebrauch erst entscheiden kann, auf welche Art und Weise eine Information rezipiert wird. Damit ändern sich die Ansprüche an das Medien- und Kommunikationsdesign, es entstehen neue Berufsrollen.

Multimedia bezeichnet sowohl eine neue Technologie: Produktion auf Basis des Computers, wie auch eine neue kulturelle Form: Distribution auf Basis des Internets. Wie immer man dieses Thema behandelt, es sind damit auch weitreichende Fragen einer sich ändernden Medienlandschaft angesprochen. Vor allem ist bemerkenswert, wie sehr damit die Ansprüche innerhalb der Medienkultur gewachsen sind.

Texte wurden immer schon gerne mit Visualisierungen geschmückt, in jüngster Zeit aber tritt die Ebene der Bilder immer selbständiger neben die Texte. Es ist schön, einen traditionell gesetzten Text zu lesen, aber auch, auf Artikel in ihrer Online-Fassung zuzugreifen, noch während der Lektüre einzelne Begriffe anzufragen, nach Hintergründen und Vertiefungen zu suchen, eine ergänzende Bildstrecke durchzuklicken, ein wörtliches Zitat im Originalton abzurufen und vielleicht ein die Hintergründe kommentierendes Video abzuspielen. Gerade auf Ebene der Web-Angebote verfügen wir über eine vielfältige Mediensituation, um die uns frühere Generationen beneidet hätten. So kann ein multimedial aufbereiteter Zeitungsartikel entweder am Bildschirm gelesen, verlinkt, lokal gespeichert, versendet, ausgedruckt oder als Audiofile gehört werden.
Digitaltechnologie löst die Grenzen einer analogen Medienkultur, deren Dokumente entweder in Schrift, Bild oder Ton über Einzelmedien zur Verfügung standen, zugunsten eines multimedialen Angebotes auf. Den unterschiedlichen Optionen auf der Darstellungsebene entspricht die technische Integration der Daten auf Ebene ihrer Codierung. Dies leisten elektronische Technologien, welche die Verarbeitung, Speicherung und Verteilung von Daten unabhängig von der menschlichen Wahrnehmungsebene ermöglichen. Das Thema Multimedia berührt also auch die Geschichte der Informationsverarbeitung, der Computer und Datennetze, des Internets und seiner populären Anwendungen im World Wide Web. Multimedia ist damit ein zentrales Thema im Rahmen von Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie Medieninformatik, und nicht zuletzt ein neues Formalobjekt für die kulturwissenschaftliche Forschung.

Medienkultur – das sind nicht Computer als solche, nicht die vielfältigen Anwendungen der Digitaltechnologie, nicht die Millionen von Blogs, nicht die Milliarden von Webseiten, und doch irgendwie alle zusammen, als hybride Praxis. Die Zahl der Internet-Nutzer weltweit hat schon die Milliardengrenze überschritten. Sie alle arbeiten mit gleichen oder ähnlichen Interfaces. Wir haben es mit einer qualitativ neuen Situation zu tun: digitale Arbeitstechniken bestimmen zunehmend den Berufsalltag, das World Wide Web verändert die öffentliche Kommunikation, und in der Freizeit weisen körpernahe Computerspiele bereits auf eine nahe Zukunft, in der sich die Interfaces von grauen Büroanwendungen mit Maus und Tastatur losgelöst haben werden. Multimedia weist auf eine nahe Zukunft der posttypografischen Ästhetik – ein vager Terminus für all das, was nicht exklusiv durch die Schriftkultur bestimmt ist, inzwischen aber die Grundlage für ein neues Denken, für Wahrnehmung und Entscheidungsfindung bildet.

Bei immer mehr Medien wird der Überblick immer schwieriger. Medieninformatiker, Webdesigner, Multimedia-Autor, Online-Journalist, Blogger, Net-Consultant – das Web und seine multimedialen Anwendungen haben zudem eine Fülle neuer Aspekte hervorgebracht, die auch mit Ansprüchen auf neue Kompetenzen verbunden sind: Ansprüche, denen die gegenwärtige Praxis der Aus- und Weiterbildung an Fachhochschulen und Universitäten eher zögerlich entspricht. Auch lassen Wissenschaft und Forschung noch viele Fragen offen: Sound in den Medien wird noch kaum systematisch erforscht, ebenso wenig die medialen Visualisierungsstrategien. Wir verfügen zudem über erstaunlich wenig abgesichertes und systematisiertes Wissen über die Wahrnehmung und Wirkung von Medien. Die Landkarte der Kultur- und Medienwissenschaften weist hinsichtlich der politischen und kulturellen Ökonomie des Web bislang noch große weiße Flecken auf.

Die Muster der Produktion, Reproduktion und Distribution kultureller Inhalte haben sich vermutlich nie zuvor in der Geschichte so radikal und in so kurzer Zeit verändert , wie dies in den letzten Jahrzehnten geschehen ist. Die Strategien kultureller Vermittlung – und ihre pädagogischen Mittel, die Medienkompetenz aufbauen sollen – entsprechen dieser Veränderung definitiv noch nicht, allzu sehr sind sie noch den Mythen der Buchkultur (Michael Giesecke) verpflichtet. Unsere aktuelle Medienkultur hingegen ist entschieden von Technik geprägt, die fließende und offene Formen annimmt, seit dem die Kommunikationen elektrifiziert und Medien digitalisiert worden sind. Dass Computer, die als künstliche Rechenknechte für Ingenieure konzipiert waren, einmal für eine qualitativ neue kulturelle Situation sorgen würden, weil sie zu einem multimedialen und expressiven Medium mutiert sind, hätte vor zwei bis drei Jahrzehnten noch niemand geglaubt. Im Alltag Jugendlicher nehmen Computer und Internet heute eine zentrale Stellung eine, wenn es um Selbstfindung und Selbstdarstellung geht. Dabei spielen der Zugang zu Informationen und die so oft beschworene demokratische Meinungsbildung eine untergeordnete Rolle, im Vordergrund stehen Unterhaltung und Konsumkultur.

Und was sagt gegenwärtig die Forschung? Die Kulturwissenschaften zeigen sich einstweilen noch durchwegs geprägt von ihrer traditionellen Rolle als Textwissenschaft und von der monographischen Publikation. Nach wie vor sind sie fixiert auf visuelle Codes, auf den Betrachter und dessen Blick. Auch bei neueren Ansätzen der Bildwissenschaft sind die Fesseln der klassischen Kunstgeschichte mit ihrer methodischen Konzentration auf Bildlichkeit noch deutlich prägend. Neuere interdisziplinäre Ansätze wie zur Visual Culture, einem Forschungsfeld zur kulturellen Rolle der visuellen Kommunikation, sind eher erst im anglo-amerikanischen Raum präsent. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat im Umgang mit neuen Medienphänomenen wie den Social Networks, die zugestanden ein noch junges medienkulturelles Phänomen darstellen, bislang noch kaum gesicherte Ergebnisse aufzuweisen. Um Formen und strukturelle Effekte dieser Digital Formations erfassen und nachzeichnen zu können, werden über sozialwissenschaftliche Befragungs- und Beschreibungsmodelle hinaus neue Verfahren des Databasing, des Kartographierens mit neuen Formen der Visualisierung von Netzwerk-Kommunikation zu entwickeln sein.

Bislang gehen viele der in Presse und Publizistik kolportierten Aussagen zum Stand und zu Trends im Mediengebrauch auf Marktforschungsdaten zurück, die sich auf amerikanische Lebensverhältnisse beziehen (etwa die des Pew Research Center in Washington DC). Was ist mit den Kulturen Europas, Asiens, Afrikas und Lateinamerikas? Seit der technischen Erschließung des internationalen Internet-Verkehrs verlieren die Vereinigten Staaten langsam den Status der kontrollierenden Zentralinstanz, den sie drei Jahrzehnte lang eingenommen haben. Für das technische Routing des Datenverkehrs im WWW trifft dies bereits zu. Nicht nur politische und wirtschaftliche, auch kulturelle Konsequenzen sind zu erwarten, wenn andere Kommunikationskulturen stärkere Präsenz in der Online-Welt erlangen. Es könnte auch neue Probleme geben; die Rolle von Bilder beispielsweise ist nicht überall dieselbe. Der Karikaturen-Streit von 2005, als der islamische Prophet Mohammed in einer dänischen Tageszeitung karikiert wurde, hat drastisch die Problematik gezeigt, die auch Folge einer Überlagerung von Medienkulturen ist.

Während in den Diskussionen nämlich immer nur die Erweiterung von Möglichkeiten betont wird, die in einem multimedialen Angebot enthalten sind, kommt fast nie die Problematik zur Sprache, die dann auftritt, wenn es Dinge zu sehen oder zu hören gibt, die man lieber nicht sehen oder hören möchte. Unser Alltag vollzieht sich ohnehin schon unter Bedingungen optischer und akustischer Umweltverschmutzung, die von ihren professionellen Verursachern beschönigend „Werbung“ genannt wird. Geschweige denn das, was andere Sinne anzusprechen imstande wäre: Multimedia hat seine Grenzen, die nicht unbedingt technischer Natur sind. Medienkünstler mögen mit dem Olfaktorischen und mit dem Haptischen experimentieren, doch im Alltag wollen die Menschen es einfach nicht haben, dass ihnen die Welt in ihrer vollen sinnlichen Bandbreite ins Haus geliefert wird – sonst nämlich würde es längst schon „Geruchsfernsehen“ und ähnliches geben. Man stelle sich einen Katastrophenbericht unter derart technisch erweiterten Bedingungen vor. Die oft geschmähte Abstraktion hat also auch ihr Gutes, und bei all den erweiterten technischen Möglichkeiten berührt die Frage nach Multimedia in den künftigen Formen auch jene nach einer entsprechenden Medienökologie, also nach dem Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Anwendungen und ihrer auf verschiedene Formate verteilten Ästhetik.

Verändern wird sich mit Sicherheit die Art und Weise des Umgangs mit visueller Information. Interfaces – die Screens und Displays der neuen Medien – transportieren Aussagen auf nichtsprachlichem Weg und werten die Ebene der visuellen Kommunikation deutlich auf (wie vor ihnen schon die Bildersprache des frühen 20 Jahrhunderts: Zeichen, Schilder, Signale). Und doch folgt hieraus kein Plädoyer für das Bild oder für eine akademisch weithin überschätzte Bildwissenschaft. Natürlich verarbeitet der Mensch einen Großteil seiner Informationen visuell, aber die methodische Herausforderung besteht nicht darin, die Bildlichkeit unserer Kultur mit all ihren technischen Symbolen zu betonen, sondern deren insgesamt posttypographischen Aspekte. Die multimediale Technik zielt auf Vermittlungs- und Erkenntnisformen, welche die Grenzen einer langfristigen kulturellen Idealisierung der Buchkultur sprengt.

Verschriftlichung – die sprachlich explizite Form – ist eine historische Kulturtechnik, die einen bestimmten Umgang mit den Dingen, als Form der Codierung, und damit eine bestimmte Bewusstseinshaltung bedeutet. Multimedia hingegen bedeutet, neue Techniken der Wahrnehmung und der Beurteilung zu erschließen, eine neue Form der Urteilskraft für eine neue Form von medialer Ästhetik. Verschwinden wird die Schrift sicher nicht. Ein Vorteil von neuen Medien ist, dass sie die sinnliche Erfahrung konzeptionell erweitern, und zwar auf eine spielerische Art und Weise. Ihre Anwendungen setzen sich in Kanälen durch, die ursprünglich gar nicht in der Form geplant waren, zu der sie sich im Gebrauch entwickelten – Email und SMS sind hierfür gute Beispiele. Andere Formen, die aus Marktinteresse implementiert wurden, haben sich wiederum nicht durchgesetzt (wie die Bildtelefonie). Aussagen über die Modalitäten künftigen Mediengebrauchs ist also mit erhöhter Vorsicht zu begegnen. „Was zählt, sind Kulturen des Gebrauchs, die über genug Wissen verfügen, um gegebene Software, Schnittstellen und Inhalte in etwas umzubauen, was es zuvor nicht gab.“ (Geert Lovink)

Es steht zu vermuten, dass es immer solche Kulturen des Gebrauchs sein werden, die aus ihrer medialen Praxis heraus entsprechendes Wissen generieren. Also bleibt die Frage, wie man hierfür denn Ausbildungsentscheidungen treffen soll – außer man beschränkt sich auf die rein technische Seite vom Multimedia, wo es gewisse Anwendungen oder Skills im Umgang mit Dateien und Formaten digitaler Medien zu erwerben gilt. Die strukturelle Konzeption vieler Lehrgänge wurzelt noch in einer Zeit ohne Personal Computer und Internet. Aber zwei einem Medienstudium aufgepfropfte Semester beispielsweise zu Grundlagen im Umgang mit Formaten und Codecs reichen sicher nicht aus, um den Herausforderungen einer Multimedia-Kultur zu begegnen. Auch Fernstudien, die vereinzelt als Multimedia-Studium angepriesen werden, nur weil Videokassetten und ein Computer vorausgesetzt werden, entsprechen nicht den Anforderungen. Spezialisierungen und Studiengänge, die nicht einem traditionellen Curriculum verpflichtet sind, können davon profitieren.

Multimedia spielt in Unterhaltung und Kunst sowie in Forschung und Lehre eine zunehmend prominente Rolle. Unterschiedliche Kompetenzen sind hier gefragt, die aber eines gemeinsam haben: die Anforderung, sich in unterschiedlichen Symbolsystemen zu bewegen. Man wird vor jeder Ausbildungsentscheidung gut daran tun zu bedenken, dass die Technologien sich rasch und unerwartet ändern können. Die Suche nach alternativen Medien, nach schnelleren und sicheren Versionen wird nicht abreißen. Das ist nicht nur technisch, sondern vor allem auch kulturell relevant. Ausbildungs- und Studienangebote sollten daher auch auf ihre wissenschaftlich-theoretische Fundierung hin geprüft werden, denn die kann auch dann noch ergiebig sein, wenn die neuesten Errungenschaften in Hard- und Software längst schon wieder veraltet sind.

Auszug aus: Frank Hartmann, Multimedia, Wien 2008 (UTB Profile)
[mit freundlicher Genehmigung]

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