Vom Verschwinden der Schriftkultur

Vom Verschwinden der Schriftkultur

Frank Hartmann führte für telepolis ein Interview mit Mihai Nadin über die Fortschreibung der Buchkultur unter veränderten Bedingungen. Der Semiotiker und Systemforscher wurde 1938 in Rumänien geboren und lehrt inzwischen an der Universität Texas, wo er das Institute for Research in Anticipatory Systems leitet.

Mihai Nadins fünfbändiges Werk Jenseits der Schriftkultur steht auf Projekt Gutenberg zum Download bereit. Er fordert eine individualisierte Technik, die sich dem User anpasst anstatt vice versa, und sieht in der gegenwärtigen kulturellen Produktion noch immer das Paradigma des Buches als vorherrschend:

Doch weder meine Entscheidung, das [Buch] anzubieten, noch das Angebot von Google verdient die Bezeichnung „Medienrevolution“. Als Publikationsmedium ist das Internet eine wichtige technische Errungenschaft. Wenn man von einer Revolution spricht, so würde das einem völlig neuen Verständnis vom Buch entsprechen, oder von jeder vorstellbaren medialen Ausdrucksform wie Musik, Tanz, Film, Theater, usw. Wenn wir von Medien als Produkten sprechen, dann bleiben wir Gefangene des industriellen Modells und seiner Marktmechanismen.

Dennoch ist die traditionelle Schrift/Buchkultur dabei, ihre hegemoniale Stellung einzubüßen:

Die Revolution aber versteckt sich hinter der Tatsache, dass das Buch weniger relevant ist als je zuvor, und dass es weiterhin an Relevanz verlieren wird. Damit ändert sich auch unser Verständnis dessen, wie und warum wir schreiben, wie wir Wissen teilen und über welche Formen wir die Dynamik wissenschaftlicher, technologischer und künstlerischer Wirklichkeiten vermitteln.

Nadin kritisiert elegant die Absurdität der gegenwärtigen Situation: ein Urheberrecht bzw. im anglo-amerikanischen Raum ein Copyrightkonzept, das aus Zeiten stammt, in denen die Medienproduktion völlig anderen Bedingungen unterlag, kann nur Probleme verursachen:

Vor allem die Autoren sind noch nicht willens, die enormen Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen das Publizieren übers Internet bietet. Eine veraltete Gesetzeslage schützt das so genannte geistige Eigentum, doch dabei dreht sich doch alles um die Kontrolle durch all jene, die dieses Eigentum nicht geschaffen haben, sondern nur an dessen Verwertung interessiert sind. Es ist ein absurdes, Konsumations-getriebenes Marktmodell.

Im Gegensatz zu unkritischen Apologeten einer neuen Medienrevolution zeichnet sich Nadins Ansatz durch eine explizite Ablehnung technologischer Determination aus:

Technologien, egal ob digitale, nukleare, biologische, nano oder wie immer sie heißen mögen, können die Werte nicht bestimmen, die uns als Individuen oder als Gemeinschaften definieren. Nicht Werte entstehen durch Technologie, sondern diese kommt als Ausdruck unseres Wertesystems zustande. Darum ist Technologie nie bestimmend – nicht einmal, wenn sie verdammt schlecht ist.

Interview auf telepolis

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