Almcamp 2010: Fotos, Fazit und die Barcamp-Zukunft

Welche Zukunft hat das Buch?

Wer hat Angst vorm Netz? Was an der Debatte über die Frage, ob „das Buch“ eine Zukunft hat, schief läuft, und die elitäre Missachtung der Netzkultur fortführt.

Anm. von Ritchie: Der folgende Gastbeitrag von Frank Hartmann, Professor an der Bauhaus Universität Weimar, unterstellt aktuellen Debatten zur Medienkonkurrenz einen systematisch verzerrten Blickwinkel. Er entstand als Vortrag zu den 40. Rauriser Literaturtagen und wurde in Volltextt 1/2010 abgedruckt. Ich freue mich sehr über diese Gastpublikation und freue mich angesichts der aktuellen Flut kulturpessimistischer Publikationen (Lanier, Schirrmacher u.a.) auf eine rege Diskussion!


Der Beitrag ist für eBook-Besitzer und Papierleser auch als PDF verfügbar:
Frank Hartmann: Wer hat Angst vorm Netz? PDF, 150kB


Die Rauriser Literaturtage sind nun also 40 Jahre alt, und es ist nur mäßig originell zu fragen, was in weiteren vier Jahrzehnten sein wird: ob es dann noch Bücher und Bibliotheken gibt. Es ist so ein Problem mit Prognosen – die Wahrscheinlichkeit, sich mit ihnen zu blamieren, ist auch schon das einzige, was an ihnen sicher ist. Aber es gibt Möglichkeiten, die Frage anders zu stellen. Zum Beispiel so: werden im Jahr 2050 Apple, Amazon und Google die Verlage abgeschafft haben? Werden dank neuer Medientechnologien dann vielleicht die Autoren den Hauptteil an ihrem Werk verdienen, und nicht ihre Verleger und die Buchhändler? Und was ist überhaupt noch ein Buch, angesichts neuer multimedialer Narrative? Was wäre die Bibliothek der Zukunft?

Das sind Fragen, die an den Grundfesten der westlichen Kultur rühren. Kultur aber ist kein Wert ohne Kontext, sie hängt immer auch von den Medien ab, Kultur bedeutet immer auch Kulturtechnik. In den letzten vier Jahrzehnten hat sich genau das verändert, und zwar ebenso radikal wie unvorhersehbar: als Medium des Erzählens erwuchs dem Buch die mächtige Konkurrenz Fernsehen, und der Bibliothek als Medium des Wissens die übermächtige Konkurrenz des Internets.

Um den Kulturwandel begreiflich zu machen, der dieser Medienrevolution zugrunde liegt, gilt es historisch ein wenig auszuholen. Die neuen Technologien sind schließlich kein Virus aus dem All, der unvermittelt auf diese Erde fällt und sich hier rücksichtslos ausbreitet. Auch wirkt das Internet nicht kausal auf unsere Kultur, sondern diese Technologie reagiert auf einen Bedarf, der sich von langer Hand entwickelt hat und vor dem die Drucktechnik, und mit ihr Bücher und Bibliotheken, sich in vielen Belangen als dysfunktional erwiesen haben. Medienentwicklungen sind ebenso Ausdruck und nicht allein Folge eines kulturellen Erfahrungswandels.

Bereits gegen Ende des 17. Jahrhundert klagte ein berühmter Zeitgenosse, dass die Menge alles Gedruckten nicht mehr zu bewältigen sei: „Die schreckenerregende Vielzahl von Büchern, die ständig zunimmt“, stürzte den Gelehrten in „unheilvolle Verzweiflung“. Bei der anschwellenden Zahl der Dispute und den vielen Untersuchungen ohne nennenswerten Nutzen drohe heilloses Chaos und Rückfall in die Barbarei. Diese Klage brachte Gottfried Wilhelm Leibniz vor, Philosoph und Bibliothekar in Hannover und Wolfenbüttel.

Leibniz glaubte daran, dass die Zukunft der Gelehrsamkeit nicht im Lesen und Schreiben liegt, sondern in der Berechenbarkeit von Problemen – genau das bestimmt heute unsere Lage, wenn man es genau nimmt. Zugleich aber schlug er ein neues Orientierungssystem vor, eine „Kunst des Auffindens“, die durch Exzerpieren von Büchern und durch Kategorisieren von Wissensbereichen erreicht werden soll, denn Information braucht Dokumentation und zu diesem Zwecke das, was informationstechnisch als „Metadaten“ bezeichnet wird, also bestimmte Zusatzinformationen. Tatsächlich tauchte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein entsprechend neues Medienformat auf: es war die Zeit der Wörterbücher und Dictionnaires, der Lexika und Enzyklopädien.

Als dann im 19. Jahrhundert mit der Schnelldruckpresse, dem Holzschliffpapier und der Linotype-Setzmaschine das Druckwesen industrialisiert wurde, schwoll die Masse an Publikationen exponentiell an. Abermals kam es zu Vorschlägen der Neuorganisation von Dokumentation und Wissensorganisation – am eindrücklichsten vorgebracht vom heute vergessenen belgischen Privatgelehrten Paul Otlet, der auf Mikrofilmtechnik setzte und auf Telekommunikation, womit sich die Bibliothek auflöse in Richtung einer weltweiten Datenbank und das Buch in Richtung vernetzter Wissensbestände. Otlet sprach bereits von einer technikgestützten „Hyper-Intelligenz“.

Jahrzehnte vor dem Internet war also klar, dass das Buch nicht das Leitmedium für die Wissensgesellschaft bleiben kann, und die Bibliothek in ihrer Funktion der Verwaltung von Wissensbeständen beschränkt ist. Ohne diesen kulturell lang angekündigten Bedarf an neuen medialen Formen hätte sich das Internet niemals allgemein durchsetzen können. Es wäre geblieben, wofür es am Anfang geplant war – eine Anwendung für Expertensysteme.
Bücher sind nicht nur für die, die sie geschrieben haben, immer noch Mittel sozialen Distinktionsgewinns. In der Moderne wurden Bücher und Bibliotheken zu Insignien des Bürgertums. Das gediegene Buchregal gehört unmittelbar zur bürgerlichen Existenz und in den Bibliotheksbauten manifestiert sich neben den Kathedralen des Klerus und den Palästen des Adels das neue bürgerliche Selbstbewusstsein. Zudem errichtete die Aufklärung ein ganz eigenes Wissensideal, das Ideal einer Lesbarkeit der Welt. Hans Blumenberg hat mit dieser Metapher die Tatsache umschrieben, dass das Paradigma der Verschriftung menschlicher Erfahrungen – sei es in den Monographien von Gelehrten, sei es in den Berichten von Reisenden und in den Protokollen von Bürokraten – den Eigensinn einer Epoche prägte, der durch Einblicke, wie sie wissenschaftliche Instrumente und entsprechende Experimente ermöglichten, radikal herausgefordert wurde.

Dass die Wissenschaft damit begonnen hat, im sogenannten Buch der Natur andere Ausdrucksmodalitäten zu entziffern als die der alphanumerischen Form, ist eine Seite der Medaille. Auf der anderen wird erkennbar, dass das Ideal der Lesbarkeit durch eine neue Bildlichkeit angekratzt wurde. Genauer gesagt wurde sie durch neue Aufzeichnungsmedien erschüttert, durch die analoge Medientechnik der Fotografie und der Phonographie. Von der direkten Art, mit der jenseits des umständlichen Buchstabenlesens bereits eine Daguerreotypie die Wahrnehmung anzusprechen vermag, berichtete aus Paris der erstaunte Alexander von Humboldt 1839 an den preußischen König: die Unmittelbarkeit, mit der sie die menschliche Einbildungskraft anspricht, faszinierte ihn besonders.

Eben davor hatte die deutsche Aufklärung immer Angst gehabt, wie ein Blick in Kants Kritik der Urteilskraft belegt, die für das alttestamentarische Bilderverbot plädiert. Bilder verwende, wer die Einbildungskraft der Menschen einschränken und manipulieren will; für die Aufklärung bleibt nur die Via negativa des abstrakten Buchstabenlesens. Diese Haltung verkennt natürlich das menschliche Bedürfnis nach Unterhaltung und Entspannung. Aber je komplexer codiert eine Botschaft ist, desto anstrengender wird jene Gratifikation zu erreichen sein, die der Konsum kultureller Güter verspricht. Aus diesem Grund besteht ein sozialer Distinktionsmechanismus, nach dem höher prämiert wird, was abstrakter codiert ist, beispielsweise eben Texte gegenüber Bildern.

Nun ist das Buch nicht allein Träger von Wissen, es dient im fiktiven Umgang mit Wirklichkeit ebenso der Erbauung und Unterhaltung. Das war nicht immer so, denn der moderne Roman entstand erst etwa im 17. Jahrhundert. Derzeit entstehen nicht nur neue Distributionsformen für Inhalte, sondern auch neue Narrative. Sie entsprechen einem alten Wunsch – auch der Literaten, erinnert sei an Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief – nach einer neuen Sprache oder einem Medium, das „unmittelbarer, glühender ist als Worte“. Und dies nicht zufällig zu einer Zeit, da die Moderne neue künstlerische und technische Ausdrucksmodalitäten entwickelte, wie die Kinematographie. Das bewegte Bild wird zum der größten Konkurrenten des erzählenden Wortes. Die Sichtbarmachung von Vorstellungen als direkte Visualisierung – das ist jener phänomenale Schritt, den das Kino über die Literatur hinaus macht. Es wird nicht der letzt gewesen sein.

Grundsätzlich, so sieht es einer der angesehensten Schriftsteller der Gegenwart, kann das Buch nicht mit dem Computer konkurrieren, wie schon zuvor nicht mit Kino und Fernsehen. Natürlich verschwindet das Buch in dieser Medienkonkurrenz nicht ganz, aber es ändert seine Form wie auch seine Funktion. Ist ein E-Book noch ein Buch? Gegenfrage: sind die geleimten Papierstapel der Handelsketten tatsächlich noch Bücher?

Gefragt, ob man in 25 Jahren noch Bücher lesen werde, antwortete Philip Roth, dass es diese kulturelle Praktik dann wohl nur noch als „Kult“ geben werde, so wie es heute noch Anhänger lateinischer Dichtung gibt.

The book can’t compete with the screen – and the Kindle won’t change that. […] I think always people will be reading them but it will be a small group of people. Maybe more people than now read Latin poetry, but somewhere in that range. – Philip Roth, Interview (thedailybeast.com, Okt. 2009)

Ein Narrativ, das ein hohes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit verlangt, verliert für ein großes Publikum zusehends an Attraktivität. Zwei Motive prägen die Überwindung der Gutenberg-Galaxis: zum einen der unermesslich gesteigerte Mehrwert der Bilder, seit ihre beschleunigte technische Reproduzierbarkeit sie die Unmittelbarkeit der Sprache einholen ließ. Zum anderen die Verlagerung der menschlichen Sinnesorganisation von der Visualität des Lesens und Schreibens hin zur Taktilität, wie McLuhan es nannte, zu jener posttypografischen Medienkultur eben, die mit Radio und Fernsehen begonnen hat.

Zur „posttypographischen“ Kultur (Michael Giesecke) gehört ein Motiv, das sich in der westlichen Kultur nicht erst mit dem Internet bemerkbar macht: die Erosion der bürgerlichen Ideologie des Individuums. Das Bürgertum privilegierte zudem eine mit Produktion und Verteilung von Druckwerken befasste Elite, die neue Klasse der Literaten. Es schuf mit der kulturellen Prämierung der Lektüre von Druckwerken zudem die ideale kulturtechnische Entsprechung zur relativ neuen Vorstellung von intimer Individualität, die von der Massenkommunikation im 20. Jahrhundert in Frage gestellt wird.

Schon die Nationalsozialisten übernahmen mit ihrer Forcierung von Radio und Fernsehen jenen zutiefst antibürgerlichen Impuls, der den modernen Formen von Propaganda (nach Edward Bernays) zugrundeliegt. Demnach ist eine Massenbeeinflussung vor allem dann möglich, wenn die Rezeption von Inhalten nicht individuell erfolgt, sondern in der Gruppe. Denn das Massenpublikum verhält sich nicht reflexiv, wie der einzelne Leser, sondern reaktiv, und da ist es leichter, die Mechanismen zur Übernahme gewünschter Interpretationen zu forcieren.
In der sich nun formierenden Netzkultur (und wie viel Veränderung wurde manifest, in gerade einmal zwei Jahrzehnten!) werden Tugenden des bürgerlichen Individuums immer weniger prämiert, verbunden mit einer tendenziellen Abwertung traditioneller publizistischer Formen der Printmedienkultur. Dieses Ende der Privatheit kennt viele Formen. Schon die Erfolgsgeschichte der Massenmedien und jetzt die der Social Networks weist auf eine tiefgreifende Veränderung der kulturellen Codes. Es ist kein Zufall, dass nach der Epoche bürgerlicher Individualisierung, in der das Bücherlesen zum Habitus sozialer Distinktion geriet, Wirklichkeit immer weniger durch den gebildeten Intellekt und immer stärker durch Medien synthetisiert wird: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ (Niklas Luhmann)
Das definitive Ende des Buches und der Literatur wird das wahrscheinlich nicht sein, aber deren Funktionswandel. Das Buch stand einst für die Gleichzeitigkeit der Verfügbarkeit von Wissen. Es schuf die Gelehrtenrepublik, als den gemeinsamen Raum vorhandener Informationen zu einen Thema oder Forschungsgegenstand. Diese Organisationsgrundlage des Wissens bildete eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Fortschritts.

Die Computernetze – das war gerade auch vor 40 Jahren nicht nur ArpaNet in den Vereinigten Staaten, sondern auch Cyclades in Frankreich und andere europäischen Datennetze – sollten den medientechnischen Stand der Dinge bald neu definieren, obwohl keiner der Entwickler auch nur im Traum daran gedacht hatte, damit eine neue kulturelle Ausdrucksmodalität zu schaffen. Zuerst löst Programmieren das Schreiben ab, nimmt ihm die Exklusivität des Weltentwurfs. Aber nachdem die technische Komplexität der vernetzten Computer hinter der grafischen Oberfläche des Web verschwunden ist und niemand mehr programmieren können muss, um Präsenz im Netz zu schaffen, sieht diese Sache bekanntlich ganz anders aus. Widerstand gegen die „Diktatur des schönen Scheins“ (Neal Stephenson) und die angebliche Entmündigung der Computernutzer blieb zwar nicht aus, erwies sich letztlich aber als zwecklos. Die Kulturtechnik des WIMP (Windows, Menues, Icons, Pointing) setzt sich langsam aber sicher gegen die des Buchstabierens durch. Und mit zunehmendem Anteil wird das, was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, durch Google und Wikipedia vermittelt. Dass die Demokratisierung des Wissens durch Oberflächlichkeit erzeugt wird, erzeugt noch keine „Unbildung“, wie die Unkenrufe aus der „Generation Adorno“ nahelegen.

Die Technologie der Netzwerke ist dabei, den Stand der Dinge neu zu verhandeln und die Kultur der Gatekeeper (Verleger, Redakteure, Zeitungsherausgeber) durch eine Kultur der Teilhabe zu ersetzen. Was tut sich nun konkret: ist Literatur im Netz einfach Literatur geblieben, nur eben an anderen Orten auf anderen Datenspeichern als eben in Büchern, die in Bibliotheken stehen? Nein, zumindest tendenziell ist sie das nicht mehr. Den Hinweis auf Weblogs wollen wir uns schenken, er ist ebenso billig wie das, was die meisten „Blogs“ inhaltlich produzieren. Wichtig an ihnen ist eigentlich nur die technische Form, die radikale Öffnung des Rückkanals und das Prinzip der Präsentierung. Aus der Logik der Datenbanken und der Online-Verfügbarkeit tendenziell sämtlicher Inhalte des kulturellen Archivs folgt, dass das Konzept der Kommunikation sich grundsätzlich ändert zugunsten dieser ungeheuren Präsentierungsleistung der Medientechnik.

Nun kann, wer will, innerhalb weniger Minuten ohne jegliches eigenes Produktionsmittel (Internet-Zugang vorausgesetzt) schriftlich oder in multimedialer Form publizieren und damit ein lokales, nationales und potenziell sogar weltweites Publikum adressieren. Es entstehen neue Formen nicht nur des Publizierens jenseits des Buches, sondern auch jenseits der herkömmlichen Formen des Schreibens, das sich technisch anders organisiert. Eigentlich ist ja schon jede lokale oder nationale Literaturszene eine Art kollaborative Plattform, auf der Texte entstehen, die auf andere Texte antworten: Thomas Galvinic hat den kalten Klotz des Erfolgs von Daniel Kehlmann zu verdauen und kennt keinen Genierer, sein Elaborat dazu („Das bin doch ich“) einen Roman zu nennen. Frau Hegemann verwurstet „Strobo“, den Text eines unbekannten Techno-Bloggers, und findet nichts dabei, doch: sie hat sogar noch recht damit, denn Literatur bestand immer schon darin, andere Aussagen, andere Texte zu verarbeiten und zu interpretieren.

Dieser Aspekt bedürfte ausführlicherer Diskussion, hier nur soviel: ohne all die bestehende Literatur wäre der einzelne Literat gar nichts. Und natürlich auch nicht ohne sein Publikum. Schriftsteller sind einigermaßen pathetische Figuren. Sie werden nicht gleich alle, wie derzeit der Bestsellerautor Frank Schätzing, mit einer Multimedia-Show durch die Lande ziehen müssen. Sie werden sich aber mit den neuen medialen Formen auseinandersetzen müssen, die nicht allein die Publikations-, sondern diese Kommunikationsverhältnisse auf neue Art und Weise interpretieren: sie verzichten auf das Medium Buch (und auf seinen Verleger) als „Mittler“.

Eine neue Generation von Autoren publiziert ihre Texte selbst längst online. Natürlich wird es eine ganze Weile noch so sein, dass die besten Produkte aus dem Netz in die Wertschöpfungskette der Verlagsindustrie eingehen werden. Aber deren viel beschworene Qualitätskontrolle findet längst schon anderswo statt: im Vorfeld jener Leserinnen und Leser, die in Blogs von Autoren Kommentare hinterlassen und in dieser oder jener Form an deren Geschichten mitschreiben. Oder gleich selbst zu Autoren werden – Web-Plattformen dazu gibt es zuhauf. Man wird als Autor von Online-Verlagen auf allen Ebenen abgeholt: „from inspiration to distribution: connect, write, publish, sell“ (so die Werbung von fastpencil.com).

Wenn nun neben den kleinen Start-ups für Autoren Giganten wie etwa Amazon einen Verlagsservice für Autoren anbietet, muss man sich wirklich fragen, was hier die Publikationskultur betreffend im Gange ist. Irgendwann wird vielleicht noch der rückständigste Autor erkennen, dass mit all dem Geschwätz vom „geistigen Eigentum“ er oder sie gemeint ist, und nicht sein Verleger und sein Buchhändler. Er wird sich dann wahrscheinlich jenen Agenten zuwenden, die ihm 60 bis 70 Prozent des Verkaufspreises ausbezahlen, und nicht wie derzeit üblich 6 bis 10 Prozent, weil Produktions- und Distributionskosten im traditionellen Verlagsbusiness derart zu Buche schlagen.

Auch wenn dann, wenn der Verkaufspreis weit niedriger sein wird, weil der Text als Produkt eine neue, elektronische Präsentationsform annimmt – den Verlegern, den Druckern und den Buchhändlern sollten die Autoren keine allzu dicken Tränen nachweinen. Immer seltener nämlich erfüllen sie ihre Funktion der Qualitätskontrolle, nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten gelernt haben, wie sich auch ganz ohne Marketing und Verkauf von Druckkostenzuschüssen und anderen Förderungen gut leben lässt. In vielerlei Hinsicht ist das Buch nurmehr Business, mit vielen unsichtbaren Stützen, das von einer unheimlichen Betriebsamkeit aufrechterhalten wird.

Das Buch ist zum Fetisch einer Kultur geworden, die ihre Ideale in dieser medialen Form materialisiert sah. Texte, die sich in Buchform niederschlugen, können nun auch als E-Book weiter existieren. Doch darum geht es weniger. Nach einer anfänglichen Euphorie hinsichtlich der Möglichkeiten von Hypertext als neuer literarischer Form lässt sich erkennen, dass es nicht die Faszination für technische Möglichkeiten an sich ist, die die Veränderung bringt. Die neue digitale Kultur hat ihre eigene Gesetzlichkeit, zu der vor allem ein Umstand zählt: die Netzkultur ist weniger hierarchisch und stärker relational bestimmt, was eine Ästhetik der Verteilung mit sich bringt, deren Form noch längst nicht feststeht – kleine Phänomene, die morgen vielleicht schon vorbei sein werden (man denke an Dienste wie Twitter) bestimmen sie, durch die Akzeptanz und den Gebrauch, den die Masse davon macht.

0 Kommentare
  1. Gefragt
    Gefragt sagte:

    Das Buch an sich hat meiner Meinung nach einfach keine Überlebenschancen in der heutigen Zeit. Ein gutes Beispiel ist die Verlagsbranche. Der einzige Bereich der dort wächst ist die Online Redaktion. Google News wird für die meisten „Young Professionals“, Entscheider, etc. zur Startseite, was verständlich ist.

    Das digitalisieren der Bücher ist auch ein weiterer Schritt, der nicht mehr zu stoppen ist, was aus meiner Sicht auch ganz gut scheint. Einfach laufen lassen, finde ich.

    Warum sollte man nicht auf neue Pferde setzen, neue Arten ein Medium zu vertreiben und bekannt zu machen? Autoren müssen sich eben anpassen und endlich mal am Puls der Zeit sein.

    Na denn :ccocktail:

  2. Kira
    Kira sagte:

    Ich möchte mich an dieser Stelle auch von der ewigen gut oder schlecht Diskussion verabschieden. Für mich haben Bücher schon lange einen ideellen Wert, den ich ihnen auch nicht absprechen möchte. Aber letztendlich ist das Buch, wie wir es gemeinhin kennen, doch lediglich eine Hülle um den zu veröffentlichenden Text. Das heißt, der Kern eines Werkes, die Gedanken, sprich die geschriebenen Worte sind wichtig und nicht die Form, in welchen eben diese Worte verkauft werden. Ich sehe die jüngsten Entwicklungen auch als eine Chance für die Autoren, mehr Leser zu erreichen und die herkömmlichen Grenzen zu überschreiten. Andererseits kann ich auch die Menschen verstehen, dass es mit der Kultur zu Ende geht, sollten die Bücher als Medien abgeschafft werden. Neuerungen machen oft Angst und bisher wurden die Werke beispielsweise dann als Hörbuch verkauft, welches das Buch an sich jedoch nicht ersetzen kann. Allerdings ist mir einmal folgendes passiert: Ich nutze gern die öffentlichen Verkehrsmittel, da ich dann während der Fahrt lesen kann. An einem Tag stiegen zwei Jungs ein und setzten sich direkt hinter meinen Platz, so dass ich das Gespräch mit anhören konnte. Sie unterhielten sich darüber, dass Bücher vollkommen out, also überholt seien und dass Hörbücher, vor allem Dieter Bohlens Werke, das Maß aller literarischen Bestrebungen sei. Meiner Meinung nach liegt es an den Lesern oder Nicht-Lesern, wie sich die Situation auf dem Büchermarkt gestaltet und ob sie Neuerungen als Einschränkungen oder Chancen sehen. Wenn sich die Bürger jedoch garnicht mehr für Literatur interessieren, wird auch diese Debatte, genauso wie die Werke, bald hinfällig. An dieser Stelle sollte zunächst angesetzt werden.

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Ich bin ganz deiner Meinung, dass es auf den Text und nicht auf den Träger ankommt; und was das Interesse betrifft, muss man sich keine Sorgen machen; Folks just love culture – was aber Kultur ist, stellt sich dann halt häufig erst im Nachhinein heraus… Und: so übel sind Didders Hörbücher gar nicht! :frog5:

  3. Strohmann
    Strohmann sagte:

    Es mag sein, dass es Bücher immer geben wird. Aber nicht mehr zum Lesen, einfach nur noch zum Bestaunen im Museum. Das Buch wird genauso verdrängt wie die VHS, MC und mittlerweile auch die DVD. Auf einem iPad kann man mehrere Tausend Bücher speichern. So hat man immer ein Buch dabei, das man lesen will. Wie will man z.B. im Zug 1000 Bücher mitnehmen? Das funktioniert einfach nicht. Und wenn man zu dem was man gerade liest eine Frage hat, kann man direkt mit dem iPad ins Internet und sich seine Frage beantworten.

    Das Buch wird also genauso aussterben, wie alle anderen Medien auch, die sich nicht den veränderten Erwartungen anpassen können.

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Ich denk, allein die Gewichtsersparnis ist ein gravierender Vorteil. Mir geht’s einfach nur drum, dass der Lesevorgang selbst nicht anstrengender ist als am Papier – und LCD-Screens eignen sich wirklich nicht besonders für lange Texte, aber auf ePaper sieht das schon wieder ziemlich anders aus.

  4. Christian
    Christian sagte:

    Denke kaum, dass eBooks einen „Mehrwert“ bieten sollten. Der würde wohl nur darin bestehen können, Zugang (in Form von Links) zu weiteren Web-Inhalten bieten zu können. Das wiederum würde wohl eher stören/vom Lesefluss ablenken. Finde, das Medium Buch hat absolut seine Berechtigung.

  5. Vince
    Vince sagte:

    DIe Diskussion wird etwas zu fokussiert auf die industriellen Länder geführt. Es ist durchaus möglich, dass das Buch in den Staaten der „1.Welt“ großflächig verdrängt wird.
    Dies trifft sicherlich nicht auf andere Teile dser Welt, wo Infrastruktur (insbesondere Strom- und Internetanbindung)weniger gut oder gar nicht vorhanden sind.
    Was ich mir aber auf jeden Fall für die weitere Zukunft vorstellen kann, sind E-Reader gleich welcher art, die designed sind wie Bücher. :frog6:

  6. Henrik
    Henrik sagte:

    Also ich kann mich noch gut an bestimmte Onlineprognosen erinnern, nachdem das Buch schon ab dem Jahre 2010 generell ausgedient haben wird. Dem ist nicht so und dem wird es auch in naher Zukunft nicht sein. Dazu überwiegen die praktischen Vorzüge und die unzureichenden Alternativen.

  7. Martin Skopal
    Martin Skopal sagte:

    Das Buch wird genauso verdrängt für den Alltagsgebrauch und im Berufsleben wie die CD die LP verdrängt hat oder die Digitalfotografie den fotografischen Film, es wird ein Nischenmedium für Liebhaber. Billige Taschenbücher werden schnell verschwinden, bei Großformaten und Sonderdrucken wie die Enzensberger-Reihe in Bleisatz werden noch sehr lange bleiben. Generell erwarte ich hier bedeutend längere Zeiten der Transformation wie bei allen anderen Medien. Zu Büchern haben viele Menschen mehr als nur eine pragmatische Beziehung. Schon mal ein neues Buch aufgemacht und mal an den Seiten gerochen, mit den Fingerspitzen über das Papier gestrichen, um die Struktur zu erfahren? Ein Buch lesen ist für viele nicht ausschließlich auf den Inhalt zu reduzieren. Von der Typografie ganz abgesehen, siehe http://bit.ly/9w883u
    Das Alltagslesen, der professionelle Umgang mit Text wird sich als erstes auf digitale Endgeräte verlagern. Aber Genusslesen?

    Um mit dem ältesten Beispiel aufzuwarten: Capt. Picard hat auch dauernd ein PADD in der Hand, um Berichte usw zu lesen… und lehnt sich zurück, um ein Buch aufzuschlagen. Nur achte darauf, welches Buch es ist und wie es gemacht ist… und ich meine nicht den Replikator ;)

    • Ritchie Blogfried Pettauer
      Ritchie Blogfried Pettauer sagte:

      Also wenn der Replikator gut genug ist und auch den Bleisatz schaffen :-)

      Aber im Ernst: ich geb dir völlig recht, Convenience-Produkte werden sehr viel schneller digitalisiert und das Buch kriegt definitiv einen höheren Fetisch-Charakter; kann ja nicht angehen, dass von heute auf morgen alle Buchregale plötzlich gähnend leer werden!

  8. Daniel
    Daniel sagte:

    Ich finde, selbst in der Zeit von iPad und Kindle hat ein Buch unzählige Vorzüge. Schon die Haptik, der Kauf an sich, das Lesen und vieles mehr… Nimmt irgendeiner ein iPad oder Kindle mit an den Strand?

  9. Angelika
    Angelika sagte:

    Und fast 2 Jahre nach dem Betrag sieht man die Tendenz deutlicher.
    Für Nostalgiker bleibt das gedruckte Buch das non plus ultra doch die elektronische Variante bietet einfach mehr. Ob man iPad an den Strand mitnimmt? Klar! Es ist im Endeffekt das gleiche wie mit den Handys vor 20 Jahren.

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