Tipping Point Talk mit Marietje Schaake

Tipping Point Talk: Europa, IT-Governance und die normative Kraft des Faktischen

Soll Europa das Internet regulieren? Kann Europa das Internet regulieren? Um diese beiden zentralen Fragen drehte sich der dritte Tipping Point Talk der Erste Stiftung. Keynote-Speakerin Marietje Schaake, ehemaliges Mitglied des Europaparlaments und Pionierin der europäischen Technologie-Politik, hat zu beiden Fragen eine eindeutige Meinung: Die EU soll eine internationale Vorreiterrolle einnehmen und den Rest der Welt mit hohen Standards, beispielsweise im Bereich Datenschutz, unter Zugzwang setzen.

In der Theorie klingt die Vision von der europäischen Internet-Governance ja sehr sympathische: Verteidigung der (digitalen) Menschenrechten auch im virtuellen Raum, strenger Umgang mit Datenschutz – wer kann das was dagegen haben?

In der Praxis gestalten einige wenige US-Unternehmen seit gut zwei Jahrzehnten den internationalen, und damit auch den europäischen, Internet-Markt. Weil – an dieser Stelle muss ich einfach zynisch aus dem Cluetrain Manifesto zitieren – „Märkte Gespräche sind“, konvergieren in diesem schwer durchkommerzialisierten Netz der späten 10er Jahre des 3. Jahrtausends die beiden Vektoren (Massen)Kommunikation und Marketing immer deutlicher.

Und plötzlich ist Facebook keine lustige Frühstücks-Spiegelei-Plattform mehr, sondern ein hochpolitisches Medium, das, je nach Neigungsgruppe, von russischen Hackern manipuliert oder US-Kapitalisten instrumentalisiert wird. Die Medienökonomen haben, wiederum je nach Neigungsgruppe, vor der Gratis-Ökonomie gewarnt oder sie euphorisch begrüßt. Und nun haben wir den Salat mit (staatlicher) Überwachung, Datenhandel und Statistik, die dein Leben ganz pragmatische massiv beeinflussen kann.

In diesem hochkomplexen Amalgam aus Ökonomie, Bürgerrechten und (freier) Meinungsäußerung möchte die EU einen Interessenausgleich finden. Wo der dann im pragmatischen Detail so aussieht wie die DSGVO/GDPR, hat die europäische Gesetzgebung mit wenig Augenmaß gehandelt. Da braucht es Nachbesserungen, aber auf der Plusseite ist zu verbuchen – das haben ich aus Marietjes Talk erfahren, dass Microsoft sich weltweit zu den Standards dieses strikten Regelwerks bekannt hat. Die Kehrseite der Medaille: Etliche US-amerikanische Seiten verzichten aus Angst vor Klagen dankend-ablehnend auf europäische Besucher.

Es ist ein Prozess, und einer muss voranreiten oder -schreiten oder -gleiten. Wer hoch fliegt, kann aber auch eine Bruchlandung hinlegen. Der Grat zwischen Innovationsfeindlichkeit und sinnvollen Schutzrechten ist nun mal nicht nur im analogen, sondern eben auch im digitalen Leben ein schmaler.

Das zeigte sich auch im anschließenden Bühnengespräch zwischen Lucy Bernholz, Senior Research Scholar am Center on Philanthropy and Civil Society der Stanford University, Head of Research, European Union Agency for Fundamental Rights, Krzysztof Izdebski, Policy Director der ePanstwo-Stiftung in Warschau und Thomas Lohninger, Geschäftsführer des Wiener Vereins epicenter.works. Verena Ringler, die Kuratorin der Tipping Point Talks, moderierte die Diskussion souverän – ich hätte mir allerdings einen Diskutanten gewünscht, der eine konträre Meinung vertritt.

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