Solid - So will TimBL das Internet reparieren

Solid: Wie Tim Berners-Lee das Internet reparieren will. (Lohnt sich die Registrierung?)

Tim Berners-Lee will seit Jahren das Web reparieren. Und er wird wissen, ob es kaputt ist, schließlich hat er’s erfunden. In diesem Fall geht es aber nicht (nur) um Regeln für die großen Player, sondern um eine neue Architektur für vollständige Kontrolle über die eigenen Daten. Der Vogel hört auf den Namen Solid und hat nicht nur den prominenten Papa, sondern auch spannende Ideen aufzuweisen. Ich habe die aktuelle Version getestet und kann eines schon vorweg sagen: Ich hab Alphas gesehen, die weniger Beta waren :)

Der Zeitpunkt für eine Alternative zu Facebook und anderen Big Data Aggregatoren ist kein schlechter: Das Vertrauen der Nutzer sinkt dank Mark Zuckerbergs katastrophalem Desaster-Management minütlich, der Leidensdruck ist einfach höher als damals beim Start von diaspora*. Und der einstige Facebook-Killer ello hat sich nach seinen 5 Minuten Fame in ein erstaunlich sperriges Creators Network transformiert.

Solid und Diaspora haben von der Grundidee her einiges gemeinsam: Statt zentraler Datensilos verbleiben sämtliche persönlichen Daten in sogenannten Pods, deren Zugriffsberechtigungen der Nutzer detailliert selbst kontrolliert. Und weil irgendjemand die ganzen Bytes ja schließlich auch hosten muss, sehen beide Netzwerke eine verteilte Hosting-Architektur vor, in der Teilnehmer Hosting-Ressourcen zur Verfügung stellen.

Doch während diaspora* sich ganz explizit als Kontrastprogramm zu Facebook positioniert, geht Solid noch einen Schritt weiter: Die Pods beinhalten nicht nur die klassischen Social Media Profildaten und Postings, sondern sämtliche Web-Publikationen eines Nutzers. Das gilt beispielsweise auch für eigenen Blogkommentare: Die wohnen in der Solid-Architektur im eigenen Pod. Ruft jemand den zugehörigen Blogartikel auf, überprüft der die Zugriffsberechtigung und zeigt den Kommentar an – oder eben nicht.

Linked Data, der Erbe des Hyperlinks?

Die technische Grundlage dafür bildet das Konzept Linked Data:

Jeder im Solid Ökosystem kann jeden Informationsschnipsel speichern, wo immer er will. Während also mein Kommentar zu Ihrem Foto in meinem Pod gespeichert ist, befindet sich das Foto selbst in Ihrem Pod. Dafür brauchen wir allerdings einen neuen Weg, um die Daten in verschiedenen Ponds miteinander zu verbinden. Und zwar auf eine solche Weise, dass der Zusammenhang zwischen meinem Kommentar und Ihrem Foto erkennbar wird.
Solid verbindet Ressourcen in unterschiedlichen Pods durch die Darstellung sämtlicher Informationen als Linked Data. Im Kern ist Linked Data wirklich simpel: Jede Datenportion bekommt ihre eigene HTTP URL am Web, und wir verwenden diese URLs um die Daten aufeinander zu referenzieren. Wenn also Ihr Foto mit adressiert wird, dann verlinkt mein Kommentar zurück zu dieser URL.

Interessant an Links innerhalb von Linked ist, dass diese Links typisiert („typed“) sind. Damit sagen wir explizit, in welcher Beziehung mein Kommentar und Ihr Foto stehen. Beispielsweise können wir sagen:

<https://mypod.solid/comments/36756>
<http://www.w3.org/ns/oa#hasTarget>
<https://yourpod.solid/photos/beach>.

Das Ziel („Target“) meines Kommentars ist also Ihr Foto. Diese Link-Typen müssen nicht neu erfunden werden: Viele von ihnen existieren bereits, und dem wir sie weiternutzen, stellen wir sicher, dass unterschiedliche Clients und Apps innerhalb von Linked Data dieselben Daten nutzen können. In diesem Fall haben wir einen Link Type aus der Web Annotation Ontology wiederverwendet. (Übersetzung des Autors)

Wie das eben so ist bei verteilten Systemen, scheitert gerade zu Beginn die Verfügbarkeit der Inhalte schnell mal an fehlenden Ressourcen. Dem will Solid mit zwei Angeboten entgegen wirken: Da wäre zum einen Inrupt, ein Anbieter des Unternehmens, das TBL gegründet hat und auf der anderen Seite die Solid Community, beide Angebote sind gratis. Wer einen eigenen Rootserver betreibt, hat alternativ auch die Möglichkeit, Solid-Hoster zu werden. Die Software basiert auf Node.js und lässt sich mit ein paar Kommandozeilen-Handgriffen installieren.

Ist das eigene Pod erstmal eingerichtet, egal ob am eigenen Server oder bei Drittanbietern, geht’s los mit der grenzenlosen Datenfreiheit:

Innerhalb von Solids Ökosystem entscheiden Sie selbst, wo Sie Ihre Daten speichern. Ihre Fotos, Ihre Kommentare, Kontakte in Ihrem Adressbuch, Kalendereinträge, Ihre Fitness-Tracker Aufzeichnungen über täglich gelaufene Kilometer… sie alle werden in Ihrem Solid POD gespeichert. Dieser Solid POD kann sich physisch in Ihrer Wohnung, an Ihrem Arbeitsplatz oder bei einem Solid POD Provider Ihrer Wahl befinden. Weil die Daten Ihnen allein gehören, können Sie sie jederzeit an einen anderen Speicherort transferieren – ohne Service-Unterbrechung. (Übersetzung des Autors)

Das gilt natürlich auch für persönliche Daten und die klassischen Profilinformationen. Statt sich bei jedem Service aufs Neue (oder via Facebook) zu registrieren, erteilt man der jeweiligen Applikation die Erlaubnis, die benötigten Informationen aus dem eigenen POD auszulesen. Weiterer Vorteil: Man muss weder synchronisieren noch mehrfach updaten, sondern nur das eigene Solid POD aktuell halten. Solid ist damit zugleich ein Identity Betreiber, der anders als dock.io ganz ohne Blockchain auskommt.

Die große Datenfreiheit in der Praxis

Diese kleinen wendigen Schiffchen, die an den großen, trägen Öltankern vorbeiziehen: Dass wir gar nicht anders können, als uns in David-gegen-Goliath Situationen mental auf die Seite des Schwächeren zu schlagen, wusste schon Greenpeace. Und in der Theorie klingt das ja alles super. Aber wie surft es sich im wirklichen Online-Leben mit Solid?

Kurz gesagt: Derzeit noch kaum. Man kann sich schon mal registrieren und sich ein wenig in der leeren Wohnung umsehen. Ich hab mir einen Free Pod direkt bei Inrupt besorgt und mein öffentliches Profil befüllt. Solid setzt auf bestehende Internetstandards, Ressourcen werden also weiterhin mittels URL adressiert:

https://ritchie.inrupt.net/profile/card#me

In Kürze wird man auch diverse private Datensammlungen (Adressbücher, Notebooks etc.) anlegen können, das funktionierte auf inrupt.net allerdings noch nicht. Also habe ich mir testhalber einen zweiten Pod auf solid.community besorgt und konnte hier problemlos öffentliche Adressbücher, Notizen und andere Datentypen hinzufügen.

Die Bedienung ist gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig, wenn nicht gar dazu geeignet, jeden UI Designer Tränen in die Augen zu treiben. Via Iconleiste mit ausgesucht nicht-selbsterklärenden Symbolen navigiert man durch die einzelnen Bereiche. Ein Klick auf das Home-Symbol führt zur Startseite, statt des aktuellen Login-Status werden dort immer die zwei Buttons „Log in“ und „Sign up“ angezeigt. XML-Fetischisten werden ihre Freude daran haben, dass man sämtliche Daten auch direkt im maschinenlesbaren Format betrachten kann.

Der Mehrwert von Solid liegt aktuell klarerweise nur knapp über dem absoluten Gefrierpunkt. So ist das eben mit Netzwerk-Medien: Ihre Popularität steigt mit der Zahl der Nutzer. Trotzdem denke ich, dass TimBL mit Solid einen Nerv der Informationsgesellschaft trifft. Ob sich Inrupt aber wirklich einen Gefallen damit getan hat, das Produkt schon jetzt zu releasen, sei dahingestellt.

Bis zur Verwirklichung der großen Vision vom freien Netz ist es noch ein langer Weg.

Solid schafft unglaubliche Möglichkeiten für Kreativität, Problem-Lösungs-Strategien und Handel. Es versetzt Einzelpersonen, Entwickler und Unternehmen in die Lage, völlig neue und innovative, vertrauenswürdige und Mehrwert schaffende Applikationen und Services zu kreieren. (Übersetzung des Autors)

Das Problem dabei: Genau dasselbe tun Facebook und Google, wenngleich auf sehr viel eigennützigerer Weise. Aber Otto Normaluser schätzt nun mal, das hat die Geschichte des Netzes immer wieder gezeigt, Komfort weit höher als Sicherheit und Privatsphäre – sonst hätten wir uns doch längst alle aus Facebook verabschiedet. Ob Solid jemals die notwendige kritische Masse erreichen wird, steht in den Sternen. Nach denen muss man aber auch mal greifen, statt immer nur nach dem nächsten Like: Mehr Kontrolle und Sicherheit bedeuten zumindest in der Übergangsphase erstmal auch weniger Komfort. Aber dafür entwirft Solid eine ganz andere Vision der Zukunft als die Corporate Ökosysteme der GAFA Unternehmen.

Wer neugierig geworden ist, kann sich hier sein Solid Pod registrieren. Und sei’s nur aus Brand Protection Gründen:
Get a Solid Pod (zur Registrierung)

Wer ist Sir Timothy John Berners-Lee?

Sir Tim Berners Lee

Geboren 1955 in London, online bekannt als TimBL oder auch TBL, Computerwissenschaftler, derzeit Professor für Computer Science in Oxford und am MIT, der interessierten Öffentlichkeit bekannt als Erfinder des World Wide Web. Im März 1989 machte er einen Vorschlag für ein auf Hyperlinks basierendes Informationssystem, im November desselben Jahres kommunizierte sein Server-Client Prototyp-Netzwerk erstmals mittels des HTTP Protokolls.

TBL stammt keineswegs aus altem englischem Adel, im Jahr 2004 verlieht im die Queen für seine Pionierarbeit seinen Titel. Neben seiner Professur ist er Gründer und Präsident des Open Data Instituts. 2009 machte ihn die Amerikanische Akademie der Wissenschaften zum „Foreign Associate“, seit 2011 sitzt er im Board of Trustees der Ford Foundation, 2016 erhielt er den Turing Award. Also ein hochdekorierter Digital-Veteran, der aber keine rechte Freude mehr mit der wilden Spätpubertät seines Sprösslings hat.

Monopolisierung von Information und die Kontrolle über das als offen konzipiertes Web in der Hand einiger weniger Unternehmen: Diesem Szenario konnte TimBL nie etwas abgewinnen. Ich hatte vor sieben Jahren das Vergnügen, beim future.talk 2011 der Telekom Austria seinen Vortrag über die die Relevanz eines offenen Netzes zu hören. Gegen Zensur und für freien Informationszugang: Ein Credo, von dem der Informatiker nie abrückte.

Bemerkenswertes Fundstück: Das ursprüngliche HyperText Proposals von Berners-Lee und Cailliau, datierend vom 12. November 1990, beschreibt das Web 1.0 und enthält im Teil „Ressourcen“ neben Programmierern auch den Job eines „Hyper Librarians“:

Hyper-Librarian. Oversees the web of available data, ensuring its coherency. Interface with users, train users.

Also wenn aus Solid was werden sollte, dann merken Sie mich bitte schon mal für den Job des Linked Hyperlibrarians vor, Sir TimBL!


Fotocredits: Titelbild: Fotolia / Gorodenkoff | Sir Tim Berners Lee: Paul Clarke / Wikipedia

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