Blogistan Panoptikum KW36 2009
Schon wieder Sonntag, aber das letzte Wort der Woche fehlt noch, aber keine Sorge: durch Medien-Kunstausstellungen zu mäandern hält niemanden vom Rückblicken ab, ganz im Gegenteil: zumal doch in der vergangenen Woche sich Unvorstellbares zutrug – und wir sprechen hier nicht von Dominiks neuer Aufgabe als Seitenblicke-Spielertrainer. Und diese Woche gilt: only bad news are good news! Gmail war down, das Internet gehört Google, eBook Reader sind viel zu teuer, SEO ist tot und WordPress-Installationen werden gehackt: sozusagen eine Traum-Woche für den Katastrophenjournalisten in uns. Wie immer begrüßen wir Sie herzlichst zum Höllenritt durch sieben Tage Blogosphärenwahnsinn – dieses Panoptikum ist für Leser aller Altersstufen teilweise unbedenklich.
Liebes Internet, Gratulation zum 40er!
Unser Lieblings-Netzwerk wurde vierzig – vor vier Dekaden begannen Len Kleinrock und sein Team am UCLA mit den ersten Tests für ein Kommunikationsnetzwerk, das verschiedene Universität verbinden sollten und einen freien Informationsaustausch ermöglichen. Uneingeschränkte Partylaune will sich bei der New York Times dennoch nicht einstellen:
There’s still plenty of room for innovation today, yet the openness fostering it may be eroding. While the Internet is more widely available and faster than ever, artificial barriers threaten to constrict its growth.
Call it a mid-life crisis.
Der Standard, Copycat Nr. 1 unter den österreichischen „Qualitätszeitungen“, würdigt das Jubiläum mit einer würdigen Übersetzung und gibt lustigerweise als Quelle AP/APA an:
Für Innovationen ist zwar sicher immer noch genug Raum da, aber die Offenheit scheint doch zu schwinden. Vielleicht erlebt das Internet ja gerade so etwas wie seine Midlife-Crisis.
Vielleicht erlebt ja der Printjournalismus gerade seine End-of-Life Krise?
Ein bisschen Twitter-Theorie
Kevin Marks‘ How Twitter works in theory gehört wohl zu den meist-zitierten Artikeln der Woche – bis 2007 war der Autor Head Engineer bei Technorati (und seit er für BT arbeitet, ist offensichtlich niemand mehr in der Lage, den Spider zum Arbeiten zu bewegen). Der gelernte Kommunikationswissenschaftler würde ein paar Schlagwörter samt rudimentärer Erklärung vermutlich nicht unbedingt als genuine Theorie des Micro-Blogging durchgehen lassen, aber lesenswert sind Kevins Ideen allemal:
At its heart Twitter is a flow – it doesn’t present an unread count of messages, just a list of recent ones, so you don’t have email’s inbox problem – the implicit pressure to turn bold things plain and get that unread number down. Instead, you can dip in and out of it, when you have time, and what you see is notes from people you care about.
Die Gmail Misere
Okay, ich geb’s zu: der rund 100 Minuten dauernde Gmail-Ausfall von letzter Woche ist mir nicht einmal aufgefallen, allerdings nutze ich Googles Kommunikationsservice auch lediglich auf meinen Homepages als relativ spam-resistente öffentliche Kontaktadresse und Durchgangsstation zu meinem „richtigen“ Mailserver. Geschuldet war der eher ungewöhnliche Ausfalle laut Gmail Blog überforderten Routern:
At about 12:30 pm Pacific a few of the request routers became overloaded and in effect told the rest of the system „stop sending us traffic, we’re too slow!“. This transferred the load onto the remaining request routers, causing a few more of them to also become overloaded, and within minutes nearly all of the request routers were overloaded. As a result, people couldn’t access Gmail via the web interface because their requests couldn’t be routed to a Gmail server. IMAP/POP access and mail processing continued to work normally because these requests don’t use the same routers.
Dieses Szenario wird sich laut Google nicht mehr wiederholen, veranlasste aber Joe Kissell auf Macworld.com zu einem Lob des Desktop-E-Mail Clients. Grundsätzlich teile ich ja Joes Meinung, aber dieses Argument bestätigt durchaus totgeglaubte Vorurteile gegenüber Mac-Usern:
I’ll still take a desktop e-mail client (such as Apple Mail, Microsoft Entourage, or Mozilla Thunderbird) any day. Why? Well, there is the issue of outages like the one Gmail experienced this week. I like to be able to access my e-mail whenever I want.
Man fühlt sich versucht, ins Kontaktformular zu schreiben: „It’s in the server, st00pid!“ Im Zeitalter des mobilen E-Mail Zugangs macht Pop3 einfach keinen Sinn mehr – und wenn die Gegenstelle, spricht der Mailserver, nicht mehr will, dann hilft auch der beste lokale Client nicht weiter… aber meist ist bloß ein bisschen Geduld gefragt, also nicht gleich ausfreaken, wenn mal ein paar Minuten nix geht, meint JK:
I heard all kinds of complaints when Gmail went down. People saying that email service X would never go down like that. Or others saying that Google OWED us to keep Gmail up and running. Give me a break, stuff happens. When I was in the corporate world it was oh, so common to hear employees at some large company or another wandering down the halls claiming that „email is down again.“ And this is the fancy corporate Exchange Server that only has to keep their own employees working. Stuff happens.
eBook Reader noch immer viel zu teuer
199$ klingen nicht gerade nach Luxusgegenstand – so viel kostet Sonys neuer eBook Reader bei Amazon.us. Aber das ist den meisten potentiell digitalen Leseratten immer noch viel zu teuer, wie eine aktuelle Studie von Forrester Research belegt:
Even among frequent readers with a household income above $75,000, current prices put e-book devices firmly in the expensive luxury category. Forrester’s survey of 4,700 online consumers in the U.S. found average consumers believe the value of e-book readers to be between $50 and $99, well below the cheapest reader on the market today. Only 14 percent of consumers said that prices of $199 or higher fall even within the „It’s expensive but I might consider it“ range, according to Forrester.
Da liegt der Gedanke an die Preisstützung beim Handy natürlich nahe: wenn digitale Inhalte über Abos vertrieben werden sollen, dann brauchen die Lesegeräte allerdings mindestens WiFi, wenn nicht gar UMTS oder zumindest EDGE – die meisten derzeit verfügbaren Reader lassen sich allerdings bloß per USB-Kabel mit Lesestoff füttern. Wird wohl doch noch ein paar Wochen dauern, bis die Mediaprint-Druckerei völlig arbeitslos wird.
All your internets are belong to Google
John Andrews trifft wie immer den Nagel auf den Kopf, wenn er die Markt-Dominanz von Big in G in einem aktuellen Posting thematisiert:
Eric Schmidt, the guy who thinks Wikipedia is the greatest gift to mankind ever created by man, has web publishers (and domain owners) in his cross hairs. If Google succeeds, no one needs a domain name and no one needs to create a brand. They just need to submit to Google, and then, perhaps if Google has not completely satisfied the users with „the answer“, provide a way to be contacted or a server IP for a web site for further reading (perhaps through the Google Profile conduit).
Diese technologische Total-Abhängigkeit zeichnet sich schon längst am Horizont ab – das Beispiel China zeigt, wie perfekt sich Suchtechnologie und Kontrollbedürfnis vereinbaren lassen. Google gestaltet unsere Vorstellung vom Netz, das schlichte Eingabefeld wurde zu unserem Haupt-Interface bei der Informationserschließung – schon jetzt bestimmt ein einzelner Gatekeeper über Quellenrelevanz. Was John zu seinem Posting veranlasst hat, war dieses Zitat von Eric Schmidts über die Zukunft seiner Suchmaschine auf TechCrunch:
So I don’t know how to characterize the next 10 years except to say that we’ll get to the point – the long-term goal is to be able to give you one answer, which is exactly the right answer over time… what I’d like to do is to get to the point where we could read his site [the definitive authority on a particular searched query] and then summarize what it says, and answer the question.
Mit anderen Worten: Eric will das Web abschaffen und alle öffentlichen Webseiten dieser Welt zu Zulieferern degradieren. Schöne Aussichten… das wär’s dann mit dem Thema „Meinungsvielfalt“, wenn man bedenkt, dass schon jetzt 90% aller Suchen über einen einzige Anbieter laufen.
SEO, wechsel dich!
Jeremy hat völlig Recht: wer als SEO seine Arbeit nicht klar rechtfertigen kann, hat bald keinen Job mehr. Die Aura des Mysteriösen ist verflogen, gutes Linkbuilding ist ebenso mühsam wie teuer, und mit simplen Tricks kommt man nicht mehr weit – was die Arbeit auch unglaublich öde macht, denn schlecht positioniert sind nur noch Seiten mit gravierenden technischen Fehlern oder gravierendem Fehlverständnis für den Keyword-Longtail:
SEO Agencies providing client work are a dying breed. Especially when any monkey can have wordpress or any other CMS system up and running in 5 minutes and totally SEO’d as much as needed.
Noticed a trend it what dominates most search results lately? Wikipedia and wordpress blogs. How many SEO’s do you think they hired ? =P
Tja, waren ein paar lustige Jahre, und es kann nicht schaden, zu wissen, wie man eigenen und Kundenseiten das gewisse Extra an SM-Traffic verschafft… aber warum man seinen Berufsalltag freiwillig mit Linkbuilding verbringen wollen sollte, ist mir ein Rätsel :mrgreen:
HTML 5 kommt im Laufschritt
Runde Ecken via CSS? Zukünftig alles kein Problem mehr… oder doch? Die Versionsumstellung bringt nicht nur mehr Programmier-Komfort, sondern auch einige gravierende Neuerungen, die David Eisenberg auf A List apart übersichtlich inklusive weiterführender Links zusammenfasst. Trial und Error bleibt ambitionierten Webdesignern natürlich nicht erspart:
By doing this, you’ll find out what works and what doesn’t. For example, I discovered that, as of this writing, Firefox 3.5 treats elements like article and section as display:inline, and I had to explicitly set them to display:block to make them work as expected.
Eine der wohl wichtigsten Änderungen sind die neuen Strukturierungselement: während man bisher mit verschiedenen div-KLassen arbeitete, bringt HTML5 diverse dezidierte Block-Elemente wie „nav“ (für die Navigation), „footer“ und „article“ mit, die Lachlan Hunt in diesem Beitrag im Detail beschreibt. Interpretiert wird der neue Mark-Up Standard derzeit von Chrome, Firefox 3.5, Opera und Safari – Microsofts IE übt sich bislang in vornehmer Zurückhaltung, was die Verbreitung wohl ein wenig bremsen dürfte.
Wie man WordPress sichert
Unliebsame Eindringlinge gibt’s nicht nur im richtigen Leben: auch virtuell mussten sich in den letzten Woche und Monaten einige Blog-Betreiber über ungebetene Gäste ärgern – die Ursachenforschung ergibt in 99% der Fälle hochgradig monokausales Verschulden: denn sobald ein sicherheitskritisches WordPress-Update auftaucht, sollte dieses so zeitnah wie möglich installiert werden: ist eine Sicherheitslücke erst einmal bekannt, dauert es in der Regel nicht lange, bis sie nach Strich und Faden ausgenützt wird. Das WordPress Blog rät aufgrund eines aktuell grassierenden Wurms nachdrücklich von Laissez-Faire Taktiken ab:
A stitch in time saves nine. Upgrading is a known quantity of work, and one that the WordPress community has tried its darndest to make as easy as possible with one-click upgrades. Fixing a hacked blog, on the other hand, is quite hard. Upgrading is taking your vitamins; fixing a hack is open heart surgery. (This is true of cost, as well.) […] The only thing that I can promise will keep your blog secure today and in the future is upgrading.
Dem kann man nur zustimmen – es gibt zwar diverse Security-Plugins, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht: also lieber nicht slacken und sofort den ftp-Client oder die automatische Update-Funktion anwerfen, denn Vorsicht ist in diesem Fall definitiv besser als Nachsicht. [via ma.tt]
Foto der Woche
Bei diesem hübschen Kerlchen handelt es sich um einen blauen Pfeilgiftfrosch, den Tambako im Züricher Zoo mit seiner 105er Makrolinse zu einer Modelling-Session überreden konnte. Ich glaub, ich muss demnächst mal nach Zürich. Und: ob blau, ob grün: Frösche sind einfach verdammt fotogen! Vielleicht sollte ich diese Rubrik in „Froschfoto der Woche“ umbenennen.
Ritchies Video der Woche
Walter5.15 produzierte, führt Regie und schnitt diesen Kurzfilm – gedreht wurde im National Black Theatre in Harlem, das gesamte Set hat das Team selbst gebastelt: visuell ziemlich nett, vielleicht ein bisschen länger als nötig – aber insgesamt sehr stimmig:
Lesetipps der Woche
- Marketeers haben wenig Zeit, daher erfreuen sich Listen großer Beliebheit. Ohne weitere Verzögerung daher: 32 Ways to Use Facebook for Business.
- „hehe, tomorrow I’m going to bed at night, cos I’m tired and I will sleep well. Lol.“ Theoretisch müsste dieser Tweet unzählige Male retweetet werden. Dan Zarella hat sich angesehen, welche Keywords am häufigsten in Retweets vorkommen – und das Ergebnis ist… erstaunlich :) How to increase Retweets on your Tweets
Das waren unsere letzten sieben Tage im Schnelldurchlauf – wir danken für Ihre Whuffies (so nennt Tara Hunt die Währung der Aufmerksamkeit), bleiben Sie uns gewogen und schauen Sie nächste Woche wieder rein, wenn es heißt: „Artisten, Tiere, Attraktionen: alles virtuell“. Wir wünschen einen schönen Restsonntag und poken uns morgen im Social Web.
Zur Gmail Misere, bzw. zur Frage, ob Desktop E-Mail-Clients eine Alternative sind: Ich verwende meine Gmail-Accounts via IMAP unter Thunderbird 3 (Beta), das die ganzen E-Mails lokal cacht (und in meinem Fall ein lokales 7GB-Profil erstellt hat). Man braucht also kein POP3, um die Vorteile von Desktop-basierten E-Mail-Programmen nutzen zu können.
Ich nutze Gmail auch via IMAP – da gab’s in den letzten Monaten übrigens immer wieder mal Ausfälle. Gecached wird aber nur die Inbox meiner 2 Haupt-Mailboxen, ich will die Größe der lokalen Mailbox eher gering halten – obwohl USB Sticks speichern eh immer mehr Daten.
ABer trotzdem: neue Mails kannst du, wenn der Mailserver down ist, in keinem Fall empfangen, und senden auch nicht – egal ob Webmail oder Cache. Ich hab alle meine Mailboxen auf Hetzner Shared Hosts laufen; hatte in drei Jahren keinen einzigen Ausfall, außerdem funkt das Webmail-Interface für „Notfälle“ auch sehr gut, v.a. mit dem neuen AJAX Interface.
Mal schauen, was die andalusische Frosch-Population so machen! :mrgreen:
Immer wieder super, was du uns da jeden Woche präsentierst. Da steckt echt ne Menge arbeit dahinter!
Ein dreifaches Dankeschön – Ja, es ist viel Arbeit, aber es sind solche Kommentare, die mich immens motivieren! Außerdem bin ich sehr froh, dass ich eine fixe Mit-Autorin habe, das erleichtert die Sache doch sehr :mrgreen:
Das mit den WordPress Updates ist halt so eine Sache. In letzer Zeit kamen so viele Updates hintereinander daß ich schon verstehen kann wenn jemand mal keine Lust hat und sich mehr Zeit lässt. Passiert ja auch nicht ganz so oft daß eine Bekannt Sicherheitslücke sofort zu einem großflächigen Angriff fürhrt.
Das waren wirklich einige in letzter Zeit… wobei man aber definitiv drauf achten sollte, ob ein Update „nur“ neue Features bringt oder von WP.org als sicherheitskritisch eingestuft wird.