Blogistan Panoptikum KW48 2009

Blogistan Panoptikum KW48 2009

Exakt sieben Tage zogen seit dem letzten Panoptikum ins Land – also genau der passende Zeitblick, um Rückschau zu halten auf die blogosphärischen Geschehnisse der vergangenen Woche. Und offensichtlich haben Geeks weltweit bislang auf den Besuch von Weihnachtsmärkten („Werft die Krämer aus dem Haus meines Vaters!“ soll der Sohn von Michael Häupl mal gesagt haben) weitgehend verzichtet: anderweitig wäre kaum erklärbar, wie schon wieder so viel passieren konnte. Google führt (fast unbemerkt) Breadcrumbs ein, die neuen Trends lautet Foursquare und Megablogging. Gleich können Sie mit all diesen neuen Buzzwords was anfangen, denn wir haben die Chronik soeben fertig gestellt.

Wer wird Wiener Bürgermeister?

Diese Frage stellen sich derzeit die Nutzer von foursquare.com. Kein anderes Social Network freut sich über derartige Zuwachsraten im Geek-Segment, seit Judith letzte Woche über den neuesten Hype am Sektor „freiwillige Lokalisierung“ berichtete. Denn Überwachungskameras waren gestern – heute machen wir unsere „check ins“ freiwillig, und wer einen Ort am häufigsten besucht, wird – zumindest solange, bis ihn ein anderer User von der Spitze der Georeferenzierungs-Pyramide verdrängt – zu dessen „Mayor“.

Im ersten Moment hab ich ja auf eine Viral-Kampagne von Qype getippt, aber denen trau ich nicht genug Originalität zu. Viel mehr als die Eincheck- und Shout-Funktionen bietet die Plattform bisher noch nicht – trotzdem meinen wir: das Ding könnte Zukunft haben, denn Foursquare ist simpel und auf den ersten Blick vollkommen sinnlos: und das sind, wie uns Twitter gezeigt hat, wohl die besten Voraussetzungen für einen lang anhaltenden Hype. Obwohl Michael Arrington da durchaus gewisse Bedenken hat:

But all this time I’ve had a nagging feeling that Foursquare, at least in its current form, is not going to be the next Twitter, as some people have concluded. Because as good as Foursquare is at figuring out where and what your friends are up to, they can’t hope to compete with Facebook. That is, if Facebook does Geo right.

Wer sich für das Potential von Foursquare näher interessiert, sollte sich Zeit nehmen für dieses ausgedehnte Posting – Michael vermutet, dass der spielerische Aspekt der Badges nur kurzfristige Anreize bietet und spricht davon, dass sich in 2 Jahren niemand mehr für die Zahl der Logins interessieren wird. Ich denke, in 24 Monaten werden sich die Betreiber noch einiges einfallen lassen. Ob der Vorsprung reicht, muss sich aber tatsächlich erst zeigen: die Gerüchteküche weiß, dass Facebook in Kürze mit eigenen Location-based Services starten will.

Commercializing Twitter

Manch Realitätsverweigerer im Alpenvorland mag noch immer glauben, dass Twitter ein Tool zur Befriedigung persönlicher Kommunikationsbedürfnisse sei und jeden verfluchen, der nicht nur uneigennützig launige Tweets mit reinem Herzen verschickt.

Doch einmal mehr wird klar, wohin es mit Twitter gehen wird – und wohl auch gehen soll, zumindest um Geld zu verdienen: Twitter wird ab Anfang 2010 Commercial Accounts launchen. Hoffen wir, dass das Ganze nicht so ein Feature Desaster wird wie zuletzt bei den Twitter Lists und beim Retweet Feature. Was soll das neue Feature können? Techwatch weiß Näheres:

The paid-for commercial accounts would offer extra services. Talking to the BBC, Stone said „You will be able to pay for an additional layer of access to learn more about your Twitter account – get some feedback, some analytics, become a better ‚Twitterer‘.“

Was aber ist nun ein „Commercial Tweeper“? Interessiert es mich nicht auch als Casual User, für welche Themen meine Follower sich interessieren und welche Links sie klicken? In Anbetracht der oben erwähnten Feature-Unausgereiftheiten darf man sich ein bisschen Sorgen machen, wer nun als Commercial Tweeper gelten wird und welche Bürden einem auferlegt werden.

Die Zukunft hat keinen Log-In Button

Ich nutze für automatisierte Log-Ins seit langem das geniale Roboform, das unglaublich viele Copy-Paste spart und noch dazu multiple Identitäten perfekt verwaltet, schließlich sind wir Social Web Pros manchmal alle ein bisschen schizo. Ein solches Helferlein könnte für Firefox-User aber bald überflüssig werden, wie ReadWriteWeb berichtet:

Firefox gets distributed social networking and identity management. The good people who work on the revolutionary, open-sourced, and occasionally maligned browser have been hard at work on making cross-site navigation and portable IDs a solvable problem. A discrete button to the left of the URL that can tell users whether or not they are logged in to a particular site and allow them to log in without further navigation

Details zur Implementierung und Screenshots gibt’s im Weblog von Mozilla-Entwickler azarask. Mehr in theoretische Spekulationen als in die Frage der praktischen Umsetzung vertieft sich ein ausführlicher Beitrag auf Stay’n’Alive: The Future has no Log In Button:

For this to happen we need more involvement from all. Maybe I’m crazy, but this future is as clear as day for me. I see a future where I go do what I want to do, when I want to, and I get the exact experience I asked for. This is entirely possible. Why aren’t we all focusing on this?

Aber tun wir doch ohnehin! Wird wohl bloß noch ein Weilchen dauern :-)

Crowd Fail

Wikipedia, die fünfthäufigst geklickte Website der Welt, ist so suprig, dass einem fast die Superlative ausgehen. Man findet beinahe jede nur erdenkliche Info, die Inhalte sind mittlerweile so gut, dass man bedenkenlos fürs Unireferat Copy-Pasten kann, die Enzyklopädia Britannica wurde sowohl in Bezug auf Qualität der Artikel wie auf Aktualität meilenweit abgehängt und am suprigsten: Die Schwarmintelligenz. Wisdom of the Crowds. Ein Märchen, das wahr geworden scheint. Leider ist nicht alles so rosig im Reich von Wikipedia und seiner Schwarmintelligenz. Denn wie wir alle aus der Schule, von der Uni oder aus dem Berufsleben wissen: So schön es sein kann, wenn man in Gruppen arbeitet – meist gibt es nichts schlimmeres, als in Gruppen arbeiten zu müssen. Und dies scheint zuletzt auch die Motivation der freiwilligen Wikipedia Mitarbeiter zu sein:

„Wikipedia is becoming a more hostile environment,“ contends Mr. Ortega, a project manager at Libresoft, a research group at the Universidad Rey Juan Carlos in Madrid. „Many people are getting burnt out when they have to debate about the contents of certain articles again and again.“ […] Wikipedia’s struggles raise questions about the evolution of „crowdsourcing“, one of the Internet era’s most cherished principles. Crowdsourcing posits that there is wisdom in aggregating independent contributions from multitudes of Web users. It has been promoted as a new and better way for large numbers of individuals to collaborate on tasks, without the rules and hierarchies of traditional organizations.“

Klingt nach Crowd Ebbing….
Ein interessantes Beispiel von Crowd Fail, dem Versagen der Schwarmintelligenz beschreibt übrigens Jaron Larnier auf edge.org.

Neu in den Google-SERPs: Brotkrumen

Für erhitzte SEO-Gemüter (aber andererseits gilt das für jedes Posting am offiziellen Google-Blog) sorgte kürzlich die Ankündigung des neuen Format „Breadcrumbs“ in den Suchergebnissen:

The new display provides valuable context and new navigation options. The changes are rolling out now and should be available globally in the next few days.
Some web addresses help you understand the structure of the site and how the specific page fits into the site hierarchy. For example, consider a search for the biography of Vint Cerf (Google’s Internet Evangelist). The URL for one result, „www.google.com/corporate/execs.html,“ shows that the page is located in a page about „execs,“ under „corporate,“ which is on the „google.com“ site. This can provide valuable context when deciding whether to click on the result.

Klingt unverständlich? Am Screenshot wird das ganze Ausmaß des Dramas sofort klar:

Google: Breadcrumbs auf den SERP-Pages

Klingt auf den ersten Blick gut, hat aber viel weniger mit Usability als mit Markt-Protektionismus zu tun, wie John On völlig zutreffend anmerkt:

In the example Aaron provided, Google has replaced a very helpful, meaningful and rich URL with a much less relevant breadcrumb. But Google wants everyone to watch how those breadcrumbs help average web sites, because Google doesn’t want you to look behind the curtain. […] This URL removal is an anti-competitive practice that seeks to hinder the efforts of companies that re-sell Google’s data, whether they be SEO research services or re-purposers (scrapers). It is the unique URL (and unique domain name) that enables everyone else to make money on the web. As long as every consumer has to go through Google to find a web page, Google has a chance to take a piece of the profits.

Und warum macht das überhaupt einen Unterschied, wo die Seiten doch auf den SERPs verlinkt sind? Nun, dazu muss man sich vor Augen halten, dass Google in den letzten Monaten immer mehr Links durch Redirects ersetzt hat – in der Tat deutet die ganze Entwicklung stark drauf hin, dass in absehbarer Zeit keine Third Party Applikation mehr umfassende Einsicht in Googles Spielweise haben wird.

Von Micro- und Mega-Bloggern

I don’t think „mega-blogging“ is actually a thing, I just made it up to make the title sound more dramatic. But if mega-blogging were a thing, you would do it with WordPress. Micro-blogging is a thing, ash a lot of people do it with Twitter. 

Von wem könnte dieses Zitat wohl stammen? (Es folgt eine Nachdenk-Leerzeile.)

Genau – Matt Mullenweg hat sich Gedanken über Twitter vs. WordPress, oder genauer gesagt über Twitter neben WordPress gemacht. Auslöser war ein Statistik-Posting auf TechCrunch mit dem inhalts-erklärenden Titel Blogging Vs. Microblogging: Twitter’s Global Growth Flattens, While WordPress‘ Picks Up.

Vor einigen Monaten war ja mal die Rede davon, dass Micro-Blogging „normale“ Weblogs mittelfristig verdrängen würden. Dabei handelte es sich aber, was schon damals klar ersichtlich war, um eine grobe Fehleinschätzung: die beiden Formaten leisten Unterschiedliches, ergänzen sich aber hervorragend. Und ohne „Mothership“ lässt sich’s im Social Web nun mal schwer navigieren. Matt spricht aber auch ein Thema an, das mir auch schon einiges an Kopfzerbrechen bereitet hat:

How tweets get imported into a blog is still an open question for me. I’ve seen lots of ways people have attempted it but when a blog becomes an activity stream it becomes a weak version of all the things it aggregates, less than the sum of its parts, because of the loss of context.

Ritchies Video der Woche

„This week in Startups“ heißt der Video-Podcast von Jason Calacanis – letzte Woche waren Programmier-Guru Joel Spolsky und WordPress-Mastermind Matt Mullenweg zu Gast: absolut sehenswertes Interview für alle, die sich schon mal gefragt haben, wie das populärste CMS der Welt eigentlich entstanden ist.

Lesetipps der Woche

  • Über gutes, schönes und richtiges (=Conversion-freundliches) Copywriting ward schon viel berichtet – Justin Goffs Guestposting bei Shoemoney enthält wenig Bla-Bla und viel praktisch umsetzbares.
  • Was sind die „wahren Gründe“ für Googles Entscheidung, Chrome OS auf den Markt zu bringen? Verschwörungstheorien blühen, aber Vijay Pandurangans Spekulationen haben durchwegs Hand und Fuß, immerhin hat der sechs Jahre lang für Big G an einflussreicher Position gearbeitet.
  • Twitter leidet an Besucherschwund, vermeldet Nielsen. Wie wir gelernt haben, sollte man Nielsen niemals glauben und immer noch ein zweites Mal hinsehen bzw. reinlesen.
  • Schlechte Zeiten für Raucher. Zum Siebenhundertfantastillionstenmal. Wer raucht, altert schneller, stirb früher, stinkt und tötet seine Mitmenschen. Das hält die wenigsten vom Rauchen ab. Aber jetzt wird’s wirklich ernst: Wer seinen Apple zum Passivrauchen zwingt, kann die Garantie auf sein Lieblingsfetischismusobjekt verlieren!
  • Die Holzmedien lassen in ihrem Überlebenskampf nichts unversucht und kopieren jetzt die iTunes-Philosophie, um Zeitungsinhalte für Kohle an den User zu bringen

.

Das war’s auch schon wieder für diese Woche – wir danken artig für Ihre Aufmerksamkeit und wünschen uns – alle sieben Tage wieder – dass Sie unserer allwöchentlichen Rückblickerei auch weiterhin gewogen bleiben. Auf datenschmutz tut sich nächste Woche wieder einiges: zwei neue Gewinnspiele scharren in den Startlöchern, morgen gibt’s ein Interview mit Loic le Meur zu Twitter. In diesem Sinne: schönen Restsonntag, wir lesen uns morgen!

Input für WochenrückblickHaben Sie Vorschläge und Themen fürs datenschmutz Wochenpanoptikum?
Gibt es aktuelle Infos aus der weiten Welt des Web, die datenschmutz-Leser erfahren sollten?
Schicken Sie Ihre eigenen News ein für den kommenden Wochenrückblick – für jeden Eintrag gibt’s auf Wunsch einen Backlink! Hier geht’s zum Einreich-Formular.
0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar